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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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das einen weißen Kondensstreifen in den Himmel streute und kein Geräusch machte, wußte sie, daß das Flugzeug eine Luftbestattung flog.
    Niemand auf der Straße wurde aufmerksam: Niemand hob den Blick. Keiner folgte diesem Toten mit den Augen.
    Wenn sich der Kondensstreifen verlor, fragte sich Irene:
    In welches Land fällt jetzt der Tote.
    Auf dem Nollendorfplatz, hatte Franz von diesem Land als Vaterland gesprochen. Da sich die Stadt verweigerte, brauchte er den Staat.
    Im Ausland, sagte Franz, mußte er einige Male zu seinem Vaterland stehen.
    Hier, auf dem Platz, wollte er sich um den feinen Unterschied bemühen, sich abgrenzen von dem, was Vaterland bedeutete.
    Ein Staat. Und Franz und mittendrin der Umfang seiner Rippen.
    An seinen Schläfen stand schon kaltes Blut.
    Eine Frage hatte Irene ihm nicht schenken können:
    Wo trägst du es, dein Vaterland, wenn es plötzlich gegen deinen Willen da ist.

    Franz fand keinen Parkplatz in der Straße. Er zerrte am Lenkrad und beschimpfte die Stadt.
    Er beschimpfte die Stadt, in der Irene lebte, und sah Irene an.
    Irene merkte zum ersten Mal, daß sie diese Straße mochte und diesen Tag. Und den Tag von morgen.
    Eine Stadt und ein Mann, dachte Irene.
    Franz schaltete den Motor aus. Auch die Musik. Hier kannst du nicht bleiben, dachte Irene, sagte:
    Hier kann das Auto nicht bleiben.
    Irene stieg aus. Sah über die Dächer der geparkten Autos. Stellte sich auf den Gehsteig. Dachte nicht an einen Parkplatz. Denn der Gehsteig war leer, so leer, daß Irene den Wind an den Beinen spürte. Daß das Rascheln der Sträucher ihr über die Hände strich.
    Franz schlug die Wagentür zu.
    Irene sah wieder, daß Franz zu viele Gesten hatte, die sich nie mehr änderten. Es waren, wie bei alten Leuten, verbissene, für immer festgelegte Gesten. Sie waren verhärtet und machten ihn alt.
    Franz war zehn Jahre jünger als Irene. Doch seine äußeren Regungen waren so präzise, daß sie alles überschritten, was er tat.
    Es waren Gesten wie hingeschleudert. In so kurzer Zeit, mit gespenstischer Genauigkeit liefen sie ab, daß sie wie Details vor den Augen stehen blieben. Und sie blieben stehen, denn sie blieben ganz. Jede einzelne Geste getrennt von der anderen. Das war es, was Franz älter machte als Irene.
    Fertig bis in die Gesten, dachte Irene, und so sicher, daß er mit fünfundzwanzig mitten im Leben steht.
    Franz suchte einen Parkplatz in der Nebenstraße.
    Irene öffnete das Handschuhfach:
    In den besten Jahren, dachte sie.
    Zwischen einem Lappen und einem Handschuh lag ein Tampon. Der gehörte nicht Irene.
    Sie schloß das Fach.
    Ich werde sein Leben verkürzen, dachte sie, wenn ich das noch einmal denk, wenn ich ihn in die Mitte des Lebens stell.
    Der gehört meiner Schwester, nicht, was du meinst, sagte Franz.
    Was meinte sie zwischen seinen Gesten, dem Lenkrad, den rasselnden Schlüsseln.
    Komm, sagte sie. Ich werde es glauben.
    Irene spürte Franz’ Blick wie ein Stich im Gesicht.
    Wenn du dich sehen würdest, sagte er.
    Irene redete durch den Innenhof, durch das Treppenhaus, durch das Zimmer:
    Ich hab mir, als ich noch nicht hier war, ich hab mir aus dem anderen Land die Entfernung zwischen dir und mir oft vorgestellt. Es waren viele Entfernungen gewesen. Jeden Tag andere. Und alle haben gestimmt. Auch nach der Landung noch gestimmt, weil Stefan am Flughafen war. Erst nach Wochen, als ich dein Gesicht gesehen hab, haben sie nicht mehr gestimmt. Ich war allein abgereist und wollte zu zweit ankommen. Alles war umgekehrt. Ich war zu zweit abgereist. Angekommen bin ich allein. Ständig schreib ich dir Karten. Die Karten vollgeschrieben. Und ich leer. Den Zufall, der uns noch einmal gefährdet, gibt es nicht.
    Franz stellte ein paar Schuhe in den Koffer. Legte ein Hemd darüber. Dann einen Rock.
    Das Weggehen von Franz war wie ein Schrumpfen. Als hätte er sich was herbeigesehnt, was ihn zerstörte.
    Zwischen Ankommen, Auspacken, Einpacken, Wegfahren war fast keine Zeit.

    Irene schrieb eine Karte: Franz, wenn ich mich auf dich beziehe, ist alles schon erfunden. Ich könnte mein Leben darauf einstellen, daß es ganz erfunden ist. Doch all die Geschichten, wie hält man sie wach.
    Von ihrer letzten Reise nach Marburg hatte Irene ein anderes Bild von Franz mitgebracht. Sein Blick war damals zerstreut und über alle Straßen gleichzeitig verteilt gewesen. Seine Gesten waren nicht alt. Sie waren falsch.
    Franz hatte vor Irenes Abreise noch einmal versucht, zwischen dem Bahnhof und

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