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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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hast.
    Ich kann mich erinnern, sagte Stefan, ich wollte zu dir. Es kann eine Stunde gedauert haben, oder einen Augenblick. Das weiß ich nicht mehr. Ich wußte es auch damals nicht.
    In dieser Nacht fiel Irene aus dem Bett.
    Es waren nicht die Träume.
    Es war das andere Land, in dem Irenes Bett an der langen Wand des Zimmers stand. Hier stand Irenes Bett an der kurzen Wand.
    Was in dem anderen Land die Länge des Bettes war, war hier die Breite.
    Da sich Irene im Schlaf der Länge nach in die Breite des Bettes legte, fiel sie auf den Fußboden.
    Irene erschrak. Sie knipste das Licht an.
    Barfuß stand sie vor dem Spiegel. Im Spiegel war ihr Gesicht noch nicht angekommen und gelb.
    Weshalb lachte Irene, weshalb lachte sie am Morgen, als sie das erzählte.

15
    DAS BÜRO sah wie ein Vorzimmer aus. Hinter dem Schreibtisch war eine zweite Tür.
    Die Frau hinter dem Schreibtisch, Irene wußte nicht, ob wegen der Tür oder wegen des Gesichtsausdrucks, sah wie eine Vorzimmerdame aus.
    Sie las die beglaubigten Übersetzungen der Urkunden, die Irene an den Rand des Schreibtischs gelegt hatte.
    Zimmerefeu hing um den Türrahmen. Kleine Nägel hielten ihn.
    Die Originale, sagte sie.
    Die Vorzimmerdame steckte sich eine Büroklammer zwischen die Lippen:
    Die deutsche Staatsbürgerschaft, das dauert.
    Sie suchte eine andere Reihenfolge in den Urkunden. Die Geburtsurkunde rückte immer weiter nach hinten.
    Wie lange wird das dauern, fragte Irene.
    Die Büroklammer zwischen den Lippen bewegte sich: Es hat keinen Sinn, daß Sie fragen. Sie können nichts beschleunigen.
    Hinter der Tür, um die der Efeu hing, läutete ein Telefon. Es läutete sechsmal. Verstummte. Irene wußte nicht, ob der Chef abgehoben, oder die Person, die anrief, aufgegeben hatte.
    Sie werden benachrichtigt, sagte die Vorzimmerdame.
    Irene hielt die Türklinke in der Hand.
    Neben dem Ellbogen der Vorzimmerdame läutete das Telefon.
    Die Vorzimmerdame hob den Hörer ab.
    Senat für Inneres, sagte sie.
    Wie sie das Wort Inneres aussprach, das klang für Irene wie Magen und Gedärm.

    Die Haltestellen lagen jenseits der Mauer, unter dem anderen Staat.
    Auf dem kahlen Streifen, der nichts taugte, nicht einmal fürs Gras, war das Fernglas die Brille.
    Regierungen, dachte Irene, die viel zu lange hielten, so lange, wie der einzelne nicht warten konnte.
    Die Grenzer waren am sonnigen Nachmittag mit Fahrrädern unterwegs, zwischen Wachtürmen und Draht.
    Irene sagte das Wort Mauersegler.
    Birkengestrüpp schloß den Flieder ein.
    Und es war eine fremde Hand auf der Haut, als Irene sich ins Gesicht griff. Und das Gedärm, Irene sah fast ihr Gedärm. Trug es wie im Einweckglas im Bauch. Und das Herz und die Zunge wie tiefgefrornes Obst.
    Schnittblumen, dachte Irene. Ich kauf mir jetzt Schnittblumen.
    Als die ältere Frau, sie war in Schwarz gehüllt, den Blumenladen betrat, erschrak sie. Die Glocke an der Tür bimmelte schon, als die Frau erst einen Fuß auf die Türschwelle gesetzt hatte.
    Solange der Schreck ihr im Gesicht stand, sah ihr Gesicht aus, als ob es leiden würde.
    Es sammelte sich rasch, das Gesicht. Zuerst die Augen. Dann das Kinn.
    Eine Haube für die Beisetzung einer Urne, sagte die Frau.
    Auch am Hals die Ader zuckte nicht mehr.
    Welche Blumen, fragte die Verkäuferin.
    Lilien sind mir zu schwer. Weniger ist manchmal mehr als viel.
    Die Frau in Schwarz zog die Augenbrauen hoch: Es muß doch Vorschriften geben.
    Schnittblumen, sagte Irene.
    Ich hoffe, ich kann mir meine Kränze selber binden, sagte die Verkäuferin.
    Die Frau in Schwarz diktierte die Adresse des Friedhofs.
    Die Büros für Bestattungen waren immer leer. In den Schaufenstern standen Pflanzen. Die waren sattgrün. Wurden verstohlen gepflegt. Im Hintergrund standen Kulissen: Marmortreppen und Marmorsäulen. Und Särge dazwischen. Särge mit den dicken Eisenringen der Kanaldeckel.
    Irene hatte in der Stadt, in der sie jetzt lebte, noch nie ein Begräbnis gesehn. Und manchmal glaubte sie auf der Fahrbahn Autos zu erkennen, die Tote transportierten. Es waren die weißen, langen Lieferwagen ohne Beschriftung. Sie fuhren langsam. Und es waren die kleinen, dunklen Wagen, die sich von anderen kaum unterschieden. Nur die Räder, ihre Räder flirrten und warfen ein Licht hinter sich.
    In den Bushaltestellen klebten Werbeplakate der Bestattungsbüros. Leichentransporte zu den Herkunftsorten wurden angeboten.
    Erd, Feuer, See und Luftbestattungen gab es.
    Wenn Irene über der Stadt ein Flugzeug sah,

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