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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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weh, täglich die Gründe nicht zu sehn.
    Schau mich an, sagte Thomas vor einem Schaufenster.
    Irene schaute über sein Haar statt in sein Gesicht.
    Wenn du mich anschaust, siehst du auch Gründe. Gründe und Folgen.
    Ich sehe nichts.
    Ein Postauto hielt. Ein Mann spannte einen Sack unter den Briefkasten.
    Der Mann trug einen Sack voller Briefe zum Postauto. Schob die Tür zu. Irene lehnte an Thomas’ Arm. Sein Kehlkopf hüpfte. Thomas lachte. Das Auto summte.
    Wo zuvor dein Schuh gestanden ist, steht jetzt der fünfte Schuh, sagte Irene.
    Thomas hob den Fuß. Er sah seine Schuhsohle an:
    Das ist einer der Gründe.
    Er klopfte mit der Fingerspitze auf die Sohle.
    Ich glaube nicht, was ich seh, sagte Irene.
    Irene zeigte auf einen Blumenstrauß. Er war starr und weiß.
    Du hast gesagt, ich soll dir einmal in der Stadt Levkojen zeigen. Es gibt auch violette.
    Der Verkäufer lächelte:
    Es ist Rittersporn, gibts auch in violett.
    Er zeigt auf einen anderen Strauß.
    Den violetten erkenn ich, sagte Irene, den weißen nicht.
    Den weißen bitte, sagte Thomas. Ohne Papier.
    Er hielt den Strauß unter Irenes Kinn.
    Hörst du, es ist Rittersporn.
    Du hast gesagt, du glaubst nicht, was du siehst.
    Irene roch an den Blumen:
    Riecht nicht.
    Thomas sah einem jungen Mann nach. Dann einem Hund, der hinter dem Mann herlief. Oder immer noch dem Mann durch den Hund, der hinter ihm herlief.
    Irene hielt den Strauß nach unten. Die Spitzen des Rittersporns berührten den Gehsteig.
    Thomas drückte Irenes Gesicht an seinen Mantel.
    Als Thomas den Kopf neigte, nahm Irene zwischen Daumen und Zeigefinger eine Haarsträhne. Irene zog die Haarsträhne den Mund entlang. Öffnete die Lippen.
    Zwischen den Lippen, von einem Mundwinkel zum anderen, merkte sie, wie Thomas’ Haar immer dünner wurde. Bis es verschwand.
    Ich kenn die Könige des Ostens, sagte Irene. Ich habe Angst. Und du hast Angst, du kennst sie nicht.
    Manchmal, sagte Thomas, wenn du redest und mit den Händen zeigst, was du erzählst, kenn ich sie auch.
    Vielleicht sind es dann die Könige des Westens, wenn ich von den Königen des Ostens hier erzähl.
    Irene legte die Fingerspitzen auf den Mund.
    Thomas bewegte das Knie im Takt:
    Gibts einen Unterschied.
    Irenes Fingerspitzen rochen nach Rittersporn.
    Vielleicht, sagte Irene, weil unsre Wünsche immer anders sind.
    Meine und deine, fragte Thomas.
    Nein, meine und meine. Unsere eigenen Wünsche: wenn wir ersticken, würden wir so gern ertrinken. Und wenn wir frieren, würden wir so gerne schwitzen.
    Thomas hob den Blick:
    Manchmal könnte man meinen, wir haben keinen Verstand. Und brauchen auch keinen. Nur sinnliche Kraft, um zu leben. Weißt du, wo man das merkt, auf windigen Straßen, auf Bahnsteigen im Freien und auf Brücken. Dort bewegen die Menschen sich so schamlos und leicht, daß sie den Himmel fast berühren.
    Manchmal sehe ich, sagte Irene, daß es den Menschen, die an mir vorbeigehn, gut geht. Sie haben kein Ziel, nur sinnliche Schritte treiben sie durch die Straßen. Die übertragen sich. Luft schlägt mir über das Gesicht. Es ist mir, als rauschten die Blätter aller Bäume zwischen meinen Schenkeln. Ich werde unsicher. Wer weiß, was aus mir wird, wenn es mir gut geht.
    Am besten, sagte Thomas, fühle ich mich, wenn ich Geld habe und allein bin. Dann kann ich, ohne mir Gedanken über mich zu machen, auf die Straßen gehn. Ich spür mich nicht. Ich könnte lachen ohne Grund. Ich probiere Hemden, Schuhe, Schals, bis ich keine Kraft mehr hab, was anzuziehn. Und mich nicht mehr sehn kann, im Spiegel. Manchmal verwechsle ich mich mit Leuten, die in eine andere Richtung gehn.
    Wenn ich müde bin, trage ich ein Hemd zur Kasse. Es ist immer ein Hemd, immer ein Betrug in der Reihenfolge zwischen Schuhen und Schals. Ich will mir Schuhe kaufen und bezahle ein Hemd.
    Es ist heimtückisch, wie ich unauffällig die Augen hin und her drehe, und den Staub auf den Regalen sehe.Und die Fäden, die überall an den Kleidern hängen. Schwarze Fäden an weißen Kleidern, rote Fäden an grünen Kleidern. Und die lockeren Knöpfe.
    Ich probiere ein Hemd, nur um den lockeren Knopf abzureißen. Ich stecke den Knopf in die Tasche eines anderen Hemds, das daneben hängt. Lasse ihn in eine Reisetasche fallen. Oder in einen Schuh.
    Ich suche das Hemd, das ich probiere, lange aus, wenn ich spüre, daß ich müde bin. Der Kragen darf nicht zerdrückt sein. Die Knöpfe dürfen nicht locker sein. Und es darf kein Faden dran hängen.
    Auf der

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