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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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dem Taxistand das Pflaster zu belagern. Das war ihm nicht geglückt.
    Als Franz weggefahren war, ging Irene in die Stadt. Irene ging in einen Laden.
    In der Anprobekabine war das Licht heller als im Laden. Der Mann hielt den Vorhang einen Spalt breit offen:
    Adele, der Rock ist dunkelblau.
    Die Verkäuferin hat gesagt, er ist schwarz. Die Frau schaute in den Spiegel.
    Der glaubst du. Und ich bin blind.
    Die Frau schob die Hand unter den Rock. Sah den Stoff auf ihrem Handrücken an:
    Du willst seit gestern abend mit mir streiten.
    Streiten. Ich könnte dich umbringen, sagte der Mann.
    Im Streifen zwischen Vorhang und Boden sah Irene, wie die Frau die Stiefel anzog.

16
    ICH HAB DICH gestern im Laden gesehn, sagte Irene, ich hab dich gesehn von heut in zehn Jahren.
    Thomas’ Lippen zuckten:
    Gestern von heut in zehn Jahren.
    Gestern von gestern. Und heute von heut. Und morgen von morgen in zehn Jahren. Wenn es um zehn Jahre geht, zählen nicht einzelne Tage.
    Wie hat er ausgesehn.
    Irene sah Thomas ins Gesicht, als lege sie Haut auf Haut.
    Thomas’ Kehlkopf zuckte.
    Das Gesicht ein wenig breiter, sagte Irene. Keine Falten, doch die Stellen, wo die Falten einmal sein werden. Der Kehlkopf härter und schneller. Hände wie deine. Deine Nagelwurzeln ein wenig ins Fleisch gesunken. Ein wenig mehr als deine.
    Hab ich dir noch gefallen.
    Ich weiß nicht, sagte Irene. Es ging nicht um dich. Es ging nicht um ihn. Um die Ähnlichkeit ging es.
    Thomas schaute seine Nagelwurzeln an:
    Ich möchte nicht, daß ich jemand ähnel.
    Er dir.
    Er ist älter, also ich ihm.
    Ich kenne ihn nicht.
    Meine Mutter hatte, als ich noch ein Kind war, eine Freundin. Auch die hatte einen Sohn. Der war älter als ich. Doch ich war größer, als ich in meinem Alter hätte sein sollen. Wir sahen gleich alt aus. Wir mußten jahrelang die gleichen Sachen tragen: die gleichen Schuhe, Hosen, Hemden, Mützen. Sonntags die gleichen Socken. Auf der Straße mußten wir uns an den Händen halten. Wir mußten aussehen wie Zwillinge. Nur so konnten sich die beiden Freundinnen an uns freuen. Wir mußten zusammen in die Schule gehn und nach der Schule zusammen nach Hause kommen. Wir waren nie befreundet. Später bin ich ihm ausgewichen. Ich habe ihn gehaßt. Ich glaube, seinetwegen hab ich später ein paar Jahre eine Frau geliebt.
    Thomas hatte Münzen in eine Schirmmütze fallen lassen, ohne sich zu bücken.
    Die sind fertig mit der Welt, sagte Thomas. Die haben keinen Entwurf.
    Irene sah nur auf die gehenden Schuhe.
    Kannst du dir das vorstellen, sagte Thomas, kannst du dir vorstellen, zu leben, ohne Entwurf.
    An jedem Ort gab es einen, der den Horizont bewohnte. Der der Stadt gehörte. Der die Ahnungslosigkeit verloren hatte. Der sich nicht beeilte.
    Es war nicht Mitleid. Es war milder Ekel. Und Angst. Schon der Gedanke, sie könnte eines Tages wie diese Menschen den Horizont bewohnen, der Stadt gehören, machte Irene unnahbar.
    Irenes Blick war kalt. Sie sah, daß in Thomas’ Blick dieselbe Kälte stand. Auch er hatte kalt überlegt und wehmütig gesprochen.
    In der U-Bahn versuchte Irene dem Blick eines Kindes standzuhalten.
    Thomas zerriß eine Fahrkarte. Die Fahrkarte dieser Fahrt. Thomas zerriß die Fahrkarte nicht abwesend. Er dachte an das, was er tat. Er vernichtete, er riß die kleinen Stücke in kleinste.
    Er täuscht sich nicht, dachte Irene, wenn er das Gefühl hat, daß ich ihn durchschau. Ich durchschau ihn, um mich zu wehren.
    Thomas legte die Hand auf Irenes Knie. Die Hand war warm. Irene rückte mit dem Fuß nach, um die Hand auf dem Knie zu halten.
    Ich kenne viele, die keinen Entwurf haben, sagte Thomas. Angefangen hat es mit einem. Ich wollte ihm helfen. Ich hab ihn mitgenommen zu mir. Dann hat er gemerkt, daß ich schwul bin und alles falsch verstanden.
    Und es gab keinen Grund, fragte Irene.
    Ich wollte mit ihm schlafen. Er ist mitten in der Nacht geflohen. Ich hab ihn gefragt. Ich hab ihn nicht gezwungen. Thomas streute die zerrissene Fahrkarte auf den Boden:
    Ich kann das Unglück nicht abschaffen. Ich kann es nur verteilen, sagte Thomas.
    In dem anderen Land, sagte Irene, hab ich verstanden, was die Menschen so kaputtmacht. Die Gründe lagen auf der Hand. Es hat sehr weh getan, täglich die Gründe zu sehn. Ein Auto parkte so dicht und leise neben Irene, als wolle es sich auf ihren Rocksaum stellen. Thomas zog Irene an der Hand:
    Komm, es ist grün.
    Und hier, sagte Irene. Ich weiß, es gibt Gründe. Ich kann sie nicht sehn. Es tut

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