Reiterhof Birkenhain 01 - Aufregung im Stall
Erdboden gewachsen, stand Kai Jensen hinter ihnen. Wie immer hatte keines der Mädchen ihn kommen hören. Luisa fühlte sich mal wieder bestätigt, dass Reitlehrer Tarnkappen besitzen, unter denen sie unsichtbar auf dem Hof herumgeistem und alles mitkriegen. Könnte man sich anders erklären, dass Herr Jensen immer dort auftauchte, wo man gerade über ihn sprach?
»Was habe ich mir da für ein Schulpferd eingehandelt!« Kopfschüttelnd deutete Herr Jensen auf seinen rauflustigen Traber. Kaum hatte der sich aus dem Zangengriff von King Louis befreit, holte er zum nächsten Schlag aus und jagte die Knabstrupper-Stute Flecken-Paula vor sich her. »Der Bursche benimmt sich ja unmöglich.«
Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr.
»Fast halb sieben«, stellte er fest. »Wird allmählich Zeit, die Pferde hereinzuholen. Ihr wisst ja, dass sie bis zehn Uhr geputzt sein müssen und ...«
»... und akkurat eingeflochten«, ergänzten Conny und Luisa lachend im Chor.
Kai Jensen nickte den Mädchen erstaunt zu und stieg mit geübtem Schwung durch die unteren Gitterholme des Tores. Wie jeden Morgen wollte er rasch den Zaun auf schadhafte Stellen kontrollieren. Seit Monaten trieb ein Phantom in Norddeutschland sein Unwesen. Der Unbekannte zerstörte nachts heimlich Weidezäune, aber so geschickt, dass man auf den ersten Blick nichts bemerkte.
Schon bald war Kai Jensen mit federnden Schritten im Morgendunst verschwunden.
»Mensch, ist der dünn«, flüsterte Conny, als ob Herr Jensen sie noch immer hören könnte. »Noch ein paar Kilo weniger - und er kann sich hinter einer Reitgerte verstecken.«
»Frau Vogel behauptet, dass er inzwischen hungern muss, um den Umbau zu bezahlen«, wusste Luisa zu berichten. »Darum würde Herr Jensen immer dünner.« »Ausgerechnet die!« Conny schnaubte verächtlich. Doris Vogel von der Damen-Reit gruppe war für ihre spitze Zunge bekannt. »Die ist doch nur neidisch, dass er seine Reithosen nicht aus Zeltplanen nähen lassen muss wie sie.«
Kichernd zog Luisa ihre Freundin vom Gatter weg. »Schluss mit dem Lästern, davon wird die Arbeit nicht fertig.«
Es stimmte natürlich nicht, dass Kai Jensen nichts mehr zu essen hatte. Er war schon seit seiner Kindheit ein schmales Hemd. Aber ein Fünkchen Wahrheit steckte leider doch hinter den Worten von Frau Vogel. Tatsächlich drückten den Stallbesitzer Geldsorgen. Die Umbauarbeiten und Reparaturen an dem hundert Jahre alten Hof waren erheblich teurer geworden, als Kai Jensen befürchtet hatte.
Neue Zäune waren jetzt auf keinen Fall mehr drin. Hoffentlich verschonte ihn der unbekannte Zaunzerstörer. Prüfend glitten Jensens Blicke über die Holzpfähle. An jedem Pfosten blieb er stehen und rüttelte mit der Hand kräftig daran. Nicht eine einzige Stelle durfte nachgeben. So einer wie Rocky würde sich auch durch den schmälsten Spalt zwängen und spurlos verschwinden. Und ein entlaufenes Pferd konnte Kai Jensen so dringend gebrauchen wie Mäuse in der Haferkiste.
Überhaupt musste heute alles glatt gehen, damit sich möglichst viele Besucher fürs Reiten begeisterten. Nur wenn alle Kurse ausgebucht waren, konnte er das nächste
Jahr finanziell überstehen. Bewusst hatte Herr Jensen die Wiedereröffnung auf den 1. Mai gelegt. Gleichzeitig fand nämlich das Fest der Feuerwehr von Großmoorstedt statt. Aus ganz Hamburg erwartete man dazu Besucher. Benno wollte bei dem Stadtteilfest Werbezettel von der Reitschule verteilen. Benno, der Feuerwehrmann, dessen dicker Friese Brinkum auf Jensens Hof stand.
Ein plötzlicher, sanfter Stoß in den Rücken riss Kai Jensen aus seinen Gedanken. Ein weiches Pferdemaul tastete suchend über seine Weste und schnupperte heftig an der Tasche, in der immer eine Hand voll Leckerli steckte.
»Na, King Louis?«, schmunzelte Herr Jensen. Er musste sich gar nicht umdrehen, um zu wissen, wer hinter ihm stand. Der alte Herdenboss fühlte sich als rechte Hand des Stallbesitzers und trottete Morgen für Morgen beim Kontrollgang neben ihm her. Beim Anblick des weisen Pferde-Opas besserte sich Kai Jensens Laune automatisch. Liebevoll strich er King Louis über die braune Nase, die an einigen Stellen schon grau war.
»Was meinst du, mein Alter, schaffen wir es? Oder nehmen uns die Banken den Hof weg?«
Wenn er sich unbeobachtet fühlte, pflegte Kai Jensen -wie alle Menschen, die sich gut mit Tieren auskennen -mit seinen Pferden ein paar Worte zu wechseln. Und er war sicher, dass ihn seine Vierbeiner sehr gut
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