Reiterhof Birkenhain 01 - Aufregung im Stall
Innenseite klebte ihr bestes Foto von der braunen Holsteiner Stute. Sally hatte den Kopf zur Seite gedreht, die Ohren aufmerksam gespitzt und guckte mit ihren klugen Augen direkt in die Linse des Fotoapparates.
»Grüß dich, Mäuschen«, murmelte Jule und drückte ihrem Lieblingspferd einen dicken Kuss auf die Fotostirn. Mitten auf den weißen Stern.
Die Putzbox wurde sorgfältig verschlossen und an die Tür gestellt, zusammen mit dem Stallrucksack. Alles war längst eingepackt, neben Kappe und Gerte ein roter Gürtel, Seidenrosen und ein schwarzer Rock. Jule holte den langen, weiten Rock noch einmal heraus und probierte ihn vor dem Spiegel an. Mit schief gelegtem Kopf sah sie ihr Spiegelbild kritisch an. Gar nicht übel, wie sie sich als Spanierin machte. Hoffentlich dachten die sieben anderen Mädchen an ihre Kostüme. Sonst konnten sie die Quadrille glatt vergessen.
Jule zog den Rock wieder aus, legte ihn zurück und ließ ihren Blick prüfend über jedes Einzelteil im Rucksack gleiten. Nichts fehlte. Auch nicht der große Umschlag mit dem kunstvoll beschriebenen Blatt Papier für den Aushang.
Vor zwanzig Minuten hatte Jule flüsternd ins halbdunkle Eltemschlafzimmer hineingefragt, ob sie nicht schon loskönne. Nach einem Blick auf den Wecker hatte ihr Vater den Kopf geschüttelt, »sieben wie immer« gebrummt und sich auf die andere Seite gedreht.
Nicht einmal heute können sie eine Ausnahme machen, dachte Jule mit einem Anflug von Verzweiflung.
Conny und Luisa waren bestimmt schon seit einer Ewigkeit im Stall. Jedenfalls hatten die beiden das gestern Abend angekündigt, als die Reiter noch bis zum Einbruch der Dämmerung Vorbereitungen getroffen hatten. Die Bänke auf der Tribüne waren abgewischt, Spinnweben aus den Ecken gefegt und alle Boxen ausgemistet und frisch eingestreut worden. Vor der Reitschule hatte man lange Holzbänke, Gartentische und einen überdachten Stand für Kaffee, Sprudel und Kuchen aufgebaut.
Trotzdem blieb am Morgen vor so einer großen Veranstaltung noch genug zu tun. Jeder Säugling würde das begreifen, dachte Jule bitter, nur meine Eltern nicht.
Die französische Kaminuhr in der Diele schlug siebenmal.
Endlich!
Mit einem Griff zerrte Jule das bereitgehängte dunkelblaue Sweatshirt vom Kleiderbügel, streifte es über die Reitbluse und ordnete ihre auffallenden, kastanienroten Haare über dem Pulloverkragen. Die weiße Bluse musste bis zur Reitvorführung geschont werden und sie kannte ihre Sally und die anderen Pferde. So schnell konnte gar keiner gucken, wie sie ihr grünes Grasmaul an einer Bluse abwischten. Je teurer und empfindlicher sie war, desto lieber!
Leise zog Jule die Tür hinter sich zu. Liebend gern hätte sie sie voller Wut zugeknallt, aber das würde heute Abend nur unnötigen Ärger geben.
Auf Socken stieg Jule die weiß lackierte Treppe hinab. Nicht auszudenken, wenn sie ihre Reitstiefel bereits im Haus anzöge! Ihre Eltern würden Schreikrämpfe kriegen. Die und ihr Sauberkeitstick. Wie konnte man ein Haus auch nur so weiß einrichten, dass jeder Klumpen Erde sofort auffiel! War es ein Wunder, dass Jule von einem alten Bauernhaus träumte, in dem man unentwegt mit schmutzigen Schuhen umherlaufen konnte, ohne dass jemand sagte: »Du ruinierst ja den teuren Boden.«?
Während sie vor der Haustür in ihre schwarzen Gummistiefel schlüpfte, atmete Jule tief die klare, würzige Morgenluft ein. Sofort fühlte sie sich besser. Der Tag würde super werden, das merkte man schon. Summend schwang Jule sich aufs Fahrrad und brauste den Schwal-benweg hinunter.
Auf zu Sally!
Im Birkenhain an der Straße zeigten sich schon grüne Blätter. Jule stoppte kurz, lehnte ihr Fahrrad an einen Stamm und brach drei kurze Zweige ab. Sally war ganz verrückt nach jungem Birkengrün.
Ob Bastian mit ihr beim Grasen war? Dann war es besser, sie fuhr nicht nach links Richtung Stall, sondern geradeaus durch den kleinen Wald. Der gewundene Weg entlang dem Lottbach endete an den Weiden von Jensens Reiterhof. Nur ein winziger Umweg von zwei Minuten. Jedenfalls bei Jules rasanter Fahrweise.
Jule legte sich flach über den Fahrradlenker und versuchte durch die noch fast kahlen Buchenäste die Wiesen zu überblicken.
Die große Weide lag zwar nicht in ihrem Sichtfeld, aber die schmalere daneben. Dort grasten die größten Pferde des Stalls, die XXL-Pferde. Diese Wiese war für die beiden schwarzen Friesen Ankum und Brinkum reserviert. Nicht weil sie eine Sonderbehandlung brauchten.
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