Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
Mäuler immer knapp. Fleisch kam nur selten auf den Tisch, wir Kinder teilten uns zu dritt ein Bett, und unsere Schuhe hatten Löcher. Trotzdem haderten wir nicht mit unserem Schicksal. Es wurde viel gelacht und gesungen bei uns im Haus. Jeden Abend dankten wir beim gemeinsamen Nachtgebet unserem Herrn, dass er uns Gesundheit und ein Dach über dem Kopf geschenkt hatte.
Das Leben in Muiderkamp verlief meist ruhig und gleichförmig. Manchmal kamen Fremde in Kutschen mit vergoldeten Wappen und Beschlägen. Sie nächtigten in der Herberge „Het Gouden Anker“ gegenüber der Kirche. Alle Kinder aus dem Dorf standen dann gaffend am Straßenrand und staunten die riesigen schwarzen Hüte der Reisenden an, ihre blank geputzten Schuhe und eleganten Mäntel mit großen, weißen Spitzenkragen. Bei uns in Muiderkamp trug niemand derartige Kleider.
Wir hörten, dass diese Männer Kaufleute aus Amsterdam waren, die im ganzen Land umher reisten, um Geschäfte zu machen. Während die Fremden im Wirtshaus aßen und tranken, schlichen wir uns in den Stall zu den Pferden. Wir streichelten ihr glattes, seidiges Fell, das sich so anders anfühlte als das unserer Pferde. Diese waren struppig, zogen im Frühling und Herbst den Pflug auf den Feldern und brachten im Sommer das Heu auf schweren Karren in die Scheunen.
Als meine Schulzeit zu Ende war, ging ich zu meinem Onkel Albert Flinck in die Lehre, einem Kleider- und Strumpfmacher. Er wohnte nur zwei Straßen weiter. Ein ganzes Jahr lang war ich von morgens bis nachmittags damit beschäftigt, die Werkstatt sauber zu halten, dem Onkel Nadel und Faden bereitzuhalten und Hemden zu plätten. Später durfte ich auch Beinlinge zuschneiden und gewöhnliche Filzkappen nähen.
Die Leute auf dem Land brauchten nicht mehr als ein paar derbe Kleidungsstücke. Hemd, Beinkleider, Wams, Kopfbedeckung und einen Bauernrock. Für den Kirchgang am Sonntag zogen die Männer einen Oberrock an, im Sommer aus Leinen, im Winter aus Wolle. Die Frauen trugen über ihrem Hemd Rock und Mieder, außerdem Kopftücher und am Kirchtag Hauben. Bei grimmiger Kälte zogen sie einfach mehrere Kleidungsstücke übereinander an.
Die Arbeit in der Werkstatt war eintönig und machte mir keine rechte Freude. Meine Fingerkuppen waren wund und zerstochen von den spitzen Nadeln. Doch den Lohn, den ich nach dem zweiten Lehrjahr verdiente, konnte die Familie gut gebrauchen. Auch wenn es nicht viel war.
Zu Jahresbeginn zog ein neuer Pastor mit Namen Jan Goltzius in unsere Gemeinde. Er war ein kleiner, untersetzter Mann mit Spitzbart und wachsamen Augen. Eines Nachmittags brachte ich ihm einen neuen Kragen, den er bei meinem Onkel bestellt hatte. Der Pastor fragte mich, ob ich ihm wohl dabei helfen könne, einige Bilder und Bücher von einem Karren zu entladen und in sein Haus zu tragen.
Zum Dank schenkte er mir ein Blatt Papier, auf dem eine Muschel mit einem Muster gezeichnet war, das an feinste Spitzenklöppelei erinnerte. Ich legte die Zeichnung zu Hause in meine Bibel und hütete sie wie einen Schatz.
Pastor Goltzius war ein großer Kunstkenner und liebte Bilder über alles. Kurz vor Ostern ließ er bei meinem Onkel für einen seidenen Schoßrock Maß nehmen. Dabei lud er mich ein, ihn einmal zu besuchen und mir seine Sammlung anzuschauen. Etwas so Erstaunliches und Kunstreiches hatte ich noch nie zuvor gesehen. Das Haus war voll von Gemälden mit Bildnissen bedeutender Personen und fremdartiger Landschaften. In kostbar geschnitzten Truhen lagerten unzählige Folianten. Sie waren in Leder gebunden und zeigten Bilder von Geschichten aus der Bibel sowie aus der Vergangenheit Hollands und den niederländischen Provinzen. Vor meinen Augen tat sich eine wunderbare, geheimnisvolle Welt auf. Der Pastor erlaubte mir, jederzeit wiederzukommen. Von da an besuchte ich Jan Goltzius jeden Tag.
Während ich in der Werkstatt meines Onkels Hemdärmel ausbesserte, kamen mir immer wieder die Bilder des Pastors in den Sinn. Vornehme Bürger, die an ihren Kleidern elegante Spitzenmanschetten trugen und kreisrunde, gefältelte Kragen. Diese erinnerten an Mühlsteine und gaben den Personen ein hoheitsvolles Aussehen. Stärkte ich eine Haube, so sah ich Frauen in schimmernden Seidengewändern mit Ketten und Ringen aus Gold und Edelsteinen vor mir.
„Samuel, was ist denn in letzter Zeit mir dir los? Wo bist du nur mit deinen Gedanken?“, mahnte mein Onkel mich dann und trug mir das Doppelte an Arbeit auf.
Häufig kamen Kunsthändler mit
Weitere Kostenlose Bücher