Rembrandts Vermächtnis (German Edition)
Herrn Jesus Christus zeigten. Alle Personen waren mit einer solchen Kraft und Wahrhaftigkeit dargestellt, dass es mir wie ein Wunder vorkam. Ich sah das schmerzverzerrte Gesicht Jesu, während er das Kreuz trägt, die hämischen Mienen der Schergen und Maria Magdalena, die demutsvoll die Hände zum Himmel hebt. Als ob diese Menschen tatsächlich lebten und litten.
In diesem Augenblick stand für mich fest: Genau so großartig und wahrhaftig wollte ich auch einmal malen können. So wie dieser Rembrandt van Rijn.
In den folgenden Wochen sammelte ich alle Reste von Papier, die ich in der Schneiderei finden konnte, und fertigte darauf Skizzen an. Es geschah wie von selbst, ohne dass ich selbst so recht wusste, was ich tat. Ich zeichnete die Werkstatt, meine Eltern und Geschwister, die Menschen und Tiere auf den Feldern und den Pastor auf der Kanzel bei einer flammenden Predigt, in der er gegen Eitelkeit, Völlerei und Trunksucht wettert.
Dem Onkel missfielen meine Zeichenübungen, er meinte, ich sei ein Träumer und vernachlässige meine Arbeit. Womit er wahrscheinlich nicht ganz Unrecht hatte. Irgendwann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und vertraute Jan Goltzius an, dass ich Maler werden wollte.
„Das überrascht mich keineswegs, Samuel“, sagte der bedächtig und nickte verständnisvoll. „Ich habe gesehen, dass du begabt und gewissenhaft bist, deswegen will ich dir helfen. Mein Vetter Frans arbeitet in Amsterdam als Apotheker. Er hat mir erzählt, dass Rembrandt schon seit vielen Jahren sein Kunde ist und Farben bei ihm einkauft. Ich werde meinen Vetter bitten, den Maler beim nächsten Mal zu fragen, ob er vielleicht einen Schüler brauchen kann.“
In meine anfängliche Freude mischten sich Zweifel. Würde ein so bedeutender Maler einen einfachen Jungen wie mich überhaupt bei sich aufnehmen? Und vor allem, was würden meine Eltern dazu sagen, dass ich kein Schneider mehr werden wollte? Der Pastor schien meine Gedanken erraten zu haben. Er legte mir die Hand auf die Schulter.
„Mach dir wegen deiner Eltern keine Gedanken, Samuel. Ich will Meister Rembrandt einen Brief schreiben und ihm darin deine Fähigkeiten schildern. Danach werde ich mit deinem Vater reden und ihm darlegen, dass ich an dein Talent und deinen Fleiß glaube. Ich bin sicher, ich werde ihn überzeugen können.“
Und so hatte es ein gütiges Schicksal gefügt, dass ich an diesem sonnigen, klaren Herbsttag auf dem Weg nach Amsterdam war, um eine Malerlehre in der Werkstatt von Rembrandt van Rijn zu beginnen. Mein Onkel hatte mich leichten Herzens ziehen lassen. Er würde sicher schon bald einen neuen, besseren Gesellen finden.
Doch nur zögernd hatte mein Vater sich von Pastor Goltzius überreden lassen. Viel lieber hätte er nämlich einen Sohn gehabt, der Lohn mit nach Hause brachte, als einen, für den er Lehrgeld zahlen musste. Kurzfristig hatte mein Vater sich entschlossen, mich nach Amsterdam zu begleiten. Ihm war in diesem Jahr die Züchtung einer neuen Tulpensorte geglückt. Sie hatte eine rosafarbene Blüte mit dunkelvioletten, senkrechten Streifen und trug den Namen „Meisje van Muiderkamp“. Er kannte einen Versteigerer in Amsterdam und hoffte nun, die Zwiebeln in der großen Stadt zu einem besseren Preis zu verkaufen als bei uns auf dem Land.
Wir durchquerten das große Stadttor im Osten und kamen zum Hafen. Ein strenger Geruch lag in der Luft, es stank nach Brackwasser, Teer und verfaulendem Fisch. Die Giebel der hohen Lagerhäuser aus rotem Backstein leuchteten in der hoch stehenden Mittagssonne.
Viele Männer waren damit beschäftigt, Schiffe mit Holz und Kisten zu entladen oder mit Säcken neu zu beladen. Fischer scheuerten die Planken ihrer Boote oder flickten die Netze. Frauen mit offenem Haar und gänzlich ohne Kopfbedeckung schlenderten mit wiegenden Hüften an den Seeleuten vorbei, die laut und gellend pfiffen und sie an der Schulter zu packen versuchten. Ich sah ihnen zu und lachte über ihre Späße, doch mein Vater packte mich am Ärmel und zog mich schnell fort.
Wir gingen weiter in westlicher Richtung zur Innenstadt. Der Weg führte an Häusern und Kanälen vorbei und über zahlreiche Brücken. In den engen Straßen waren viele Menschen unterwegs, es mussten noch viel mehr sein, als in Muiderkamp und allen umliegenden Dörfern zusammen wohnten. Da waren Wasserträger mit schweren Eimern, Frauen und Dienstmädchen, die vom Markt kamen und ihre Einkäufe in Körben nach Hause trugen. Kinder, die auf
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