Renate Hoffmann
Flüstern, als sie das sagte.
Eigentlich sah Frau Hoffmann die gesamte Situation natürlich völlig anders. Sie war nämlich der Meinung, dass es keinerlei Anlass gab, sie wegen einer derartigen Nichtigkeit auf diese Art und Weise zu behandeln. Sie hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen, fast täglich Überstunden geleistet. Sie gehörte nicht zu jenen Angestellten, die am Anfang jedes Jahres ihre Kalender zückten und die Feiertage markierten. Sie gehörte auch nicht zu den Mitarbeitern, die sich an Brückentagen frei zu nehmen pflegten. Und sie zelebrierte es auch nicht, wenn ein Feiertag auf einen Werktag fiel. Frau Hoffmann arbeitete gerne. Vielleicht auch deswegen, weil sie ansonsten nichts mit sich anzufangen wusste.
Zwanzig Minuten später saß Frau Hoffmann zähneknirschend an ihrem Schreibtisch. Sie transpirierte leicht, was vermutlich größtenteils daran lag, dass sie noch immer den gefütterten Mantel und ihren Schal trug. Als sie beides ausgezogen hatte, inspizierte sie die ovalen Schweißflecke im Achselbereich ihres Kostüms, die die vergangenen dreizehn Minuten als eine Art feuchtes Andenken an ihre eigene Schwäche hinterlassen hatten. Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. Doch deren Ursprung lag weniger in der Wut über Herrn Walter, als darüber, dass Frau Hoffmann nicht einmal über das Mindestmaß an Selbstwert verfügte, das nötig gewesen wäre, um ihn in die Schranken zu weisen.
Kapitel 8
Den gesamten Tag nagte ihre eigene unbändige Schwäche an Frau Hoffmann, das Gefühl des Versagens. Die Unsicherheit hatte sie an einen Punkt gebracht, dass selbst der Gedanke an ihr triumphales Ende sie nicht aufzuheitern vermochte. Frau Hoffmann war nie ein Rebell gewesen. Sie hatte sich an Regeln gehalten, vor allem deswegen, wie sie es sich selbst einredete, weil ohne Regeln kein gesellschaftliches Leben möglich wäre. Natürlich wusste Frau Hoffmann, dass meistens gerade diejenigen, die die Regeln aufstellten, sich am wenigsten an sie hielten. Das änderte nichts an der Tatsache, dass Frau Hoffmann kein Rebell war. Und manchmal ärgerte sie das entsetzlich, auch wenn sie das niemals zugeben würde.
Vier Stunden später stand Frau Hoffmann unvermittelt auf. Obwohl sie wirklich versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, schlichen sich immer wieder Flüchtigkeitsfehler ein. Und das passierte Frau Hoffmann nie. Sie war gut, in dem was sie tat. Mehr noch, sie war ein Picasso der Buchhaltung. Und deswegen stand sie auf. Sie verließ ihr Büro und ging zielstrebig den Flur hinunter, stieg in den Aufzug und drückte die acht.
Die Türen öffneten sich und Frau Hoffmann ging, nun ein wenig weniger zielstrebig, den Korridor hinunter. Ihr Herz schlug gegen ihre Rippen, ihre Hände waren von einem feuchten Film überzogen. Sie wischte sie am Rock ihres Kostüms ab, dann klopfte sie an der vorletzten Tür auf der rechten Seite.
„Da haben Sie vollkommen Recht…“, sagte Herr Hofer kopfschüttelnd. „Und was soll das überhaupt heißen, es kann jeden treffen?“
Frau Hoffmanns Hände waren nicht mehr feucht. Ihr Herz schlug auch wieder normal. Sie fühlte sich gut. Na ja, vielleicht nicht gut, aber zumindest fühlte sie sich nicht mehr schlecht. Frau Hoffmann verschrenkte die Arme. Ihre Unterarme berührten die Schreibtischplatte. „Sollen denn in nächster zeit Stellen abgebaut werden?“, fragte sie vorsichtig.
„Die wirtschaftliche Situation ist im Augenblick zwar tatsächlich besorgniserregend, ich rechne dennoch nicht mit Personalabbau. Unsere Auftragslage sieht gut aus. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Frau Hoffmann spürte Herrn Hofers tiefe Stimme durch die Tischplatte.
In diesem Moment fragte sie sich, weshalb sie sich über den möglichen Verlust ihres Arbeitsplatzes überhaupt Gedanken machte, wo sie doch in absehbarere Zeit, ohnehin vom Balkon springen würde, und lächelte. Herr Hofer interpretierte dieses Lächeln freilich verkehrt, doch das kümmerte Frau Hoffmann nicht. Sie bedankte sich bei Herrn Hofer für seine Zeit, stand auf und ging zur Tür. „Und, Frau Hoffmann…“ Sie drehte sich noch einmal um.
„Ja?“
„Sollte sich sein Verhalten nicht ändern, kommen Sie bitte zu mir.“
Frau Hoffmann nickte verlegen, verließ das Büro und ging den langen kargen Korridor hinunter.
Zwei Stunden später klopfte es an Frau Hoffmanns Tür. Herr Hofer steckte seinen Kopf ins Zimmer, strahlte sie an und sagte, „Ich habe eben mit Herrn Walter gesprochen.“ Frau
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