Rendezvous im Hyde Park
sich die Szene bildlich vor. Sie hatte einen blonden Adonis vor Augen, dessen Weste sich über einer breiten, muskulösen Brust spannte, während er durch ein Meer bewusstloser Frauen watete. Am besten wäre es, wenn ein paar von ihnen noch halbwegs bei Sinnen wären, ihn am Bein zupften, bis er das Gleichgewicht verlor ...
„Annabel!"
Annabel nahm sofort Haltung an. Louisa hatte sich mit ungewohnter Dringlichkeit an sie gewandt, da täte sie gut daran zuzuhören.
„Annabel, das hier ist wichtig", sagte Louisa.
Annabel nickte. Ein ungewohntes Gefühl überkam sie - vielleicht Dankbarkeit, Liebe gewiss. Sie hatte ihre Cousine gerade erst kennengelernt, doch sie waren einander bereits in tiefer Zuneigung verbunden. Louisa würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um Annabel vor einer unglücklichen Ehe zu bewahren.
Leider war Louisas Macht in diesem Fall beschränkt. Und sie konnte nicht nachvollziehen, wie sehr man als älteste Tochter einer verarmten Familie unter Druck stand.
„Hör zu", bat Louisa. „Lord Newbury verlor seinen Sohn vor etwa einem Jahr. Und er hat angefangen, sich nach einer neuen Frau umzusehen, als sein Sohn noch nicht einmal ganz kalt war."
„Hätte er dann inzwischen nicht schon fündig geworden sein müssen?"
Louisa schüttelte den Kopf. „Er hätte beinahe Mariel Willingham geheiratet."
„Wen?" Annabel blinzelte und versuchte den Namen einzuordnen.
„Genau. Du hast nie von ihr gehört. Sie ist tot."
Annabel hob die Augenbrauen. Für eine derart tragische Nachricht zeigte sich ihre Cousine bemerkenswert emotionslos.
„Zwei Tage vor der Hochzeit bekam sie eine Erkältung."
„Sie ist in nur zwei Tagen gestorben?", fragte Annabel.
Die Frage war ziemlich morbid, aber, nun ja, sie wollte es einfach wissen.
„Nein. Lord Newbury bestand darauf, die Zeremonie zu verschieben. Er sagte, es sei nur zu ihrem Besten, sie wäre zu krank, um vor den Traualtar zu treten, aber jeder wusste, dass er sich nur vergewissern wollte, ob sie gesund genug war, ihm einen Sohn zu schenken."
„Und dann?"
„Nun ja, dann ist sie tatsächlich gestorben. An die vierzehn Tage hat es gedauert. Es war wirklich sehr traurig; sie war immer nett zu mir." Louisa schüttelte den Kopf und fuhr fort: „Lord Newbury war nur knapp davongekommen. Wenn er sie geheiratet hätte, hätte er Trauer tragen müssen. Es war ohnehin schon skandalös, wie schnell er nach dem Tod seines Sohnes auf Brautschau ging. Wenn Miss Willingham nicht bereits vor der Hochzeit gestorben wäre, hätte er ein weiteres Jahr Trauer tragen müssen."
„Wie lang hat er denn abgewartet, ehe er sich auf die Suche nach einer anderen machte?", fragte Annabel und fürchtete sich gleichzeitig vor der Antwort.
„Nicht länger als zwei Wochen. Ehrlich, wahrscheinlich hätte er nicht mal so lang gewartet, wenn er geglaubt hätte, damit durchzukommen." Louisa sah sich im Raum um. Ihr Blick fiel auf Annabels Sherry. „Ich brauche Tee", sagte sie.
Annabel erhob sich und betätigte den Klingelzug; sie wollte nicht, dass Louisa sich beim Erzählen unterbrach.
„Nach seiner Rückkehr nach London", sagte Louisa, „begann er Lady Frances Sefton den Hof zu machen."
„Sefton", murmelte Annabel. Sie hatte den Namen schon gehört, konnte ihn aber nicht recht zuordnen.
„Ja", erklärte Louisa eifrig. „Genau. Ihr Vater ist der Earl of Brompton." Sie beugte sich vor. „Lady Frances ist das dritte von neun Kindern."
„Ach herrje."
„Miss Willingham war die älteste von vier, aber sie ..." Louisa unterbrach sich, offenbar wusste sie nicht recht, wie sie es ausdrücken sollte.
„Hatte eine Figur wie ich?", schlug Annabel vor.
Louisa nickte grimmig.
Annabel verzog ironisch das Gesicht. „Dich hat er vermutlich kein zweites Mal angesehen."
Louisa sah an sich herunter, an ihrer schmächtigen Gestalt. „Nein, nie." Und fügte mit untypisch gotteslästerlicher Heftigkeit hinzu: „Gott sei Dank."
„Was ist mit Lady Frances passiert?", fragte Annabel.
„Sie ist durchgebrannt. Mit einem Lakaien."
„Lieber Himmel. Sicher war sie schon die ganze Zeit in ihn verliebt, meinst du nicht auch? Man würde doch nicht mit einem Lakaien durchbrennen, um eine Ehe mit einem Earl zu umgehen."
„Glaubst du nicht?"
„Nein", bekräftigte Annabel. „Das ist doch nicht vorteilhaft."
„Kommt darauf an, was man unter einem Vorteil versteht. Vermutlich hielt sie es nicht für sehr vorteilhaft, eine Ehe mit einem so ... einem so ..."
„Ich flehe
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