Rendezvous mit Übermorgen
viele Jahre später, an Bord der Newton, verlief O'Tooles Entscheidungsfindung weit weniger gradlinig. Damals in Guatemala hatte der junge Major an der moralischen Richtigkeit seiner Handlungsweise nicht den geringsten Zweifel gehegt. Der jetzige Befehl zur Zerstörung Ramas hingegen war etwas von Grund auf anderes. Nach O'Tooles Überzeugung hatte das außerirdische Raumfahrzeug in keiner Weise offenes kriegerisches oder feindseliges Verhalten gezeigt. Außerdem wusste er, dass sein Befehl sich hauptsächlich auf zwei Faktoren stützte: Auf die Angst vor dem, was Rama tun könnte , und auf eine Epidemie von wütender Xenophobie, einen weltweiten Ausbruch von Fremdenhass beim sogenannten »Mann auf der Straße«. Und historischer Erfahrung zufolge hatten sowohl Furcht wie »öffentliche Meinung« notorisch kaum je etwas mit moralischen Erwägungen zu tun. Wenn es also ihm, Michael, gelingen könnte herauszufinden, welche Absicht wirklich sich in Rama verbarg, dann könnte er ...
Unter dem Kruzifix war die kleine Statue eines kraushaarigen jungen Mannes mit großen Augen befestigt. Diese Figur des heiligen Michael von Siena hatte ihn seit seiner Hochzeit mit Kathleen auf jeder seiner Reisen begleitet. Jetzt brachte ihn die Statuette auf eine Idee. Er griff in eine der Schubladen in seinem Terminal und holte ein elektronisches Template hervor, schaltete das Gerät an, überprüfte das Angebot auf dem Template und gab das Konkordanzregister für die Predigten des heiligen Michael ein.
Unter dem Stichwort »Rama«, entdeckte er in der Konkordanz eine Unmenge verschiedenartigster Verweise. Wonach er suchte, fand er rasch, es war der einzige hervorgehobene Titel. Es ging um die berühmte »Rama-Predigt« des Heiligen, die er auf freiem Feld vor fünftausend Neophyten gehalten hatte, drei Wochen vor dem atomaren Holocaust in Rom.
OToole begann zu lesen:
»Zum Kernpunkt meiner heutigen Ansprache an euch wähle ich eine strittige Frage, die unsere Schwester Judy bei unserem Concilium vorbrachte: Nämlich, worauf stützt sich meine Äußerung, dass das extraterrestrische Raumfahrzeug namens Rama durchaus der erste Vorbote und Künder der Zweiten Wiederkunft Christi gewesen sein könnte. Ihr sollt alle wissen, dass mir zu dieser Stunde keinerlei klare Vision zuteil wurde, die das entweder bestätigt oder widerlegt. Jedoch - Gott hat mir zu verstehen gegeben, dass die Verkünder der nächsten Wiederkunft des Gesalbten von außergewöhnlicher Art sein müssten, oder das Erdenvolk würde sie gar nicht zur Kenntnis nehmen. Ein simpler Engel oder zwei, die am Himmel Trompete blasen, werden einfach nicht genug Lärm machen. Um die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen, werden die Herolde wirklich eine spektakuläre Show abziehen müssen.
Es gibt einen Präzedenzfall, bei den Propheten des Alten Testaments mit ihren Vorverweisen auf das Auftreten des Jesus von Nazareth, dass seherisches Vorwissen aus himmlischen Höhen stammen kann. Der feurige Wagen des Propheten Elija war das seiner Zeit gemäße Rama. Technisch gesehen überstieg es das Begriffsvermögen der damaligen Beobachter ebenso sehr, wie das bei Rama heute für uns der Fall ist. In diesem Sinn zeigt sich hier ein gewisses gemeinsames Muster, eine Übereinstimmung, eine Symmetrie, die in keinem Widerspruch zur göttlichen Ordnung steht.
Was mich jedoch bei der Ankunft des Rama-Raumschiffes Nummer Eins vor acht Jahren mit besonderer Hoffnung erfüllte - und ich sage bewusst >Raumschiff Nummer Eins<, weil ich gewiss bin, dass ihm weitere nachfolgen werden das ist, dass dadurch die Menschheit gezwungen wird, sich selbst in einer extraterrestrischen Denkperspektive zu sehen. Allzu sehr und zu oft beschränken wir uns in unserer Gottesvorstellung - und damit implizit in unserer persönlichen Spiritualität. Aber wir sind Teil des Universums. Wir sind seine Kinder. Und es ist ein purer Glücksfall, dass unsere Atome sich hier auf diesem Planeten zu so etwas wie Bewusstsein hinauf entwickelten.
Rama zwingt uns dazu, uns selbst - und Gott - als Bestandteil des Universums zu betrachten. Und es ist ein Triumph Seiner Intelligenz, dass Er uns in diesem Zeitpunkt einen solchen Vorboten sandte. Denn wie ich euch schon viele Male sagte: Die Zeit ist überreif für unsere letztendliche Evolution, für die Erkenntnis und Anerkenntnis, dass die gesamte menschliche Rasse nur ein einziger Organismus ist. Die Epiphanie Ramas bedeutet nur ein Zeichen mehr, dass die Zeit für uns gekommen
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