Renner & Kersting 02 - Mordswut
Melodie, sich immer wiederholendem Text und eingängigem Rhythmus herausgesucht. Beim ersten Song machten die meisten noch mit. Beim zweiten ließ die Beteiligung merklich nach und beim dritten wurde hauptsächlich in Fäkalsprache gebrüllt. Das reichte. Helga beschloss, das Singen zu beenden und zu Mathematik überzugehen. Während sie passende Aufgaben im Buch suchte, stieg der allgemeine Geräuschpegel wieder an, und es kostete sie viel Mühe, ihn auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Sie kannte nur wenige Kinder mit Namen, was den Unterricht nicht einfacher gestaltete. Doch bald rechneten alle mehr oder minder interessiert ihre Aufgaben. Mit dem Versprechen, keine Hausaufgaben aufzugeben, wenn konzentriert gearbeitet würde, hielt sie die Klasse einigermaßen ruhig bei der Arbeit. Trotzdem verbrauchte sie eine Menge Energie. Hier musste geholfen, dort geschimpft oder gedroht werden. Letztendlich war auch diese Stunde um. Bis auf vier Mädchen verließen alle eilig den Raum. Leise flüsternd standen sie an der Tür.
„Was ist los? Warum geht ihr nicht nach Hause?“
„Britta hat Bauchschmerzen.“ Und wirklich weinte eines der Mädchen leise vor sich hin. Dicke Tränen flossen die Wangen hinunter.
„Ist dir übel? Musst du vielleicht zur Toilette?“ Das war sowohl die einfachste als auch die häufigste Lösung derartiger Probleme. Kopfschütteln.
„Dann solltest du jetzt gehen. Daheim kannst du dich hinlegen. Deine Mutter kann dir besser helfen als ich hier.“ Helga überlegte. Es schien nicht so schlimm zu sein, dass sie den Krankenwagen hätte rufen müssen. Die ganze Zeit über hatte Britta gerechnet, ohne zu klagen.
Doch auf ihre Anregung hin, weinte das Mädchen nur lauter.
„Sie will nicht nach Hause“, erklärte eine der Freundinnen.
„Warum denn nicht? So schlimm kann es doch nicht sein.“
„Doch!“, nickte Britta und schniefte.
Jetzt wurde Helga energisch. Sie wollte auch endlich heim. „Gut, dann sag mir, was ich tun soll. Soll ich den Krankenwagen rufen, der dich ins Krankenhaus bringt?“ Ins Krankenhaus wollte kein Kind gern. Deshalb hoffte Helga, dass ihre Erpressung funktionieren und das Mädchen heimgehen würde. Pech! Von Schluchzern unterbrochen, heulte die Kleine: „Ich will nicht ins Krankenhaus.“
„Was dann? Mädchen, wir können doch nicht ewig hier stehen.“ Keine Antwort.
„Wo wohnst du denn?“
„Primelweg.“ Erneutes Schniefen.
„Wohnt ihr in der Nähe?“, fragte Helga die anderen Mädchen. Unisono schüttelten sie die Köpfe. Was nun?
„Ist deine Mutter daheim? Soll ich die anrufen, damit sie dich abholt?“
Ein erleichtertes, genicktes „Hm“ war die Antwort.
„Kannst du mir eure Telefonnummer sagen?“
„Ich weiß sie“, meldete sich eine der Freundinnen.
„Dann komm mit.“ Ergeben ging Helga zum Sekretariat hinüber. Seltsamerweise schien die Mutter kaum überrascht, dass sie kommen und ihre Tochter abholen musste. Als Britta erfuhr, dass ihre Mutter unterwegs war, stellte sie ihr Schluchzen prompt ein. Die drei Freundinnen verabschiedeten sich, und die Lehrerin blieb bei dem Mädchen am Haupteingang stehen. Zum Glück ließ die Mutter nicht lange auf sich warten. Noch bevor Helga eine Frage stellen konnte, bedankte diese sich, nahm ihre Tochter an die Hand und verschwand. Egal! Helga stieß einen tiefen Seufzer aus und lief zum Lehrerparkplatz hinüber. Ein kühler Wind fegte über den Hof. Fröstelnd zog sie ihre Jacke enger um sich. Anscheinend wurde es langsam Zeit, die Wintersachen herauszuholen.
2
Andrea Michalsen freute sich, dass ihre Kollegin ihr die letzte Stunde abgenommen hatte. So konnte sie in Ruhe in die Stadt fahren und das Hochzeitskleid anprobieren, an dem noch kleinere Änderungen vorgenommen worden waren. Außerdem mussten die Tischkarten aus der Druckerei abgeholt, der Blumenladen an pünktliche Lieferung erinnert, sowie letzte Einkäufe getätigt werden. Sie spürte eine innere Unrast, eine unbestimmte Angst, dass etwas schief gehen oder irgendetwas Furchtbares geschehen könnte. Immer wieder rief sie sich selbst zur Ordnung. Was sollte denn schon passieren? Selbst wenn das Kleid nicht fertig, die Blumen nicht pünktlich geliefert, der Standesbeamte krank oder das Essen versalzen sein sollte ... Sie liebte Josef, und er liebte sie. Das allein zählte! Alles andere war nebensächlich und würde später eine amüsante Fußnote ergeben, mehr nicht. Als sie an Josef dachte, wurde ihr so leicht ums Herz, dass sie
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