Replay - Das zweite Spiel
Und wo?
Er öffnete eines der kleinen Fächer der Brieftasche, um eine Antwort auf diese Fragen zu erhalten. Darin fand er einen Studentenausweis der Emory-Universität, ausgestellt auf den Namen Jeffrey L. Winston. Einen Bibliotheksausweis von Emory, ebenfalls auf seinen Namen ausgestellt. Die Quittung einer chemischen Reinigung in Decatur. Eine gefaltete Cocktailserviette mit dem Namen eines Mädchens und einer Telefonnummer darauf. Ein Foto seiner Eltern vor dem alten Haus in Orlando, in dem sie gelebt hatten, bevor sein Vater schwer erkrankt war. Einen farbigen Schnappschuss mit einer lachenden, Schneeball werfenden Judy Garland, das schmerzhaft junge und überglückliche Gesicht von einem weißen Kragen eingerahmt, der gegen die Kälte hochgeschlagen war. Und einen Führerschein aus Florida, ausgestellt auf Jeffrey Lamar Winston, mit dem 27. Februar 1965 als Ablaufdatum.
Jeff saß allein an einem Tisch für zwei in der ufo-förmigen Polaris-Bar oben auf dem Hyatt Regency und sah zu, wie die Skyline von Atlanta alle fünfundvierzig Minuten an ihm vorbeirotierte. Der Taxifahrer war jedenfalls nicht geistig beschränkt gewesen: Der siebzigstöckige Zylinder des Peachtree Plaza existierte nicht. Ebenfalls verschwunden waren die Türme des Omni International, der graue steinerne Klotz des Georgia Pacific Buildings und die riesige schwarze Schachtel des Equitable. Das hervorstechendste Gebäude in der Innenstadt von Atlanta war dieses hier, mit seiner oft kopierten atriumartigen Lobby. Und ein kurzes Gespräch mit der Bedienung hatte bestätigt, dass das Hotel neu, also vorerst noch einzigartig war.
Der schlimmste Moment war für ihn gewesen, als er in den Spiegel hinter der Bar geblickt hatte. Er hatte dies mit Absicht getan, im vollen Bewusstsein dessen, was er sehen würde, war aber trotzdem schockiert, als er sich seinem eigenen blassen, hageren, achtzehnjährigen Spiegelbild gegenübersah.
Der Junge im Spiegel wirkte objektiv etwas reifer als achtzehn; in diesem Alter hatte er kaum Probleme gehabt, Alkohol zu bekommen, so wie bei der Bedienung eben, doch Jeff wusste, dass dies pure Illusion war, bedingt durch seine Größe und die tief liegenden Augen. Für ihn war das Spiegelbild das eines unerfahrenen Halbwüchsigen ohne seelische Narben.
Und dieser Halbwüchsige war er selbst. Nicht in der Erinnerung, sondern hier und jetzt: die faltenlosen Hände, mit denen er den Drink hielt, die konzentrierten Augen, mit denen er sah.
»Können Sie schon einen neuen gebrauchen, Süßer?«
Die Bedienung lächelte ihn freundlich an, mit hellroten Lippen unter dunklen Mascara-Augen und einer veralteten hochtoupierten Frisur. Sie trug ein ›futuristisches‹ Kostüm, ein irisierendes blaues Minikleid von der Art, wie es in zwei oder drei Jahren überall von den jungen Frauen getragen werden würde.
In zwei oder drei Jahren - von jetzt an gerechnet. Den frühen Sechzigern.
Gott im Himmel!
Er konnte nicht länger abstreiten, was geschehen war, konnte nicht mehr darauf hoffen, es irgendwie wegzuargumentieren. Er war im Begriff gewesen, an einem Herzinfarkt zu sterben, hatte jedoch überlebt; er war in seinem Büro gewesen, im Jahr 1988, und jetzt war er … hier. In Atlanta, 1963.
Jeff suchte nach einer Erklärung, nach etwas, das zumindest ansatzweise einen Sinn ergab. Als Heranwachsender hatte er eine ganze Menge Science Fiction gelesen, aber seine gegenwärtige Situation hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den Zeitreise-Szenarios, denen er dort begegnet war. Es gab keine Maschine, keinen Wissenschaftler, ob verrückt oder nicht, und im Gegensatz zu den Romangestalten hatte sich sein Körper verjüngt. Es war, als hätte einzig und allein sein Bewusstsein die Jahre übersprungen und das frühere Bewusstsein ausgelöscht, um sich im Gehirn seines eigenen achtzehnjährigen Selbst einzunisten.
War er also dem Tod entronnen? Oder war er ihm nur ausgewichen? Befand sich sein lebloser Körper in einer New Yorker Leichenhalle und wurde vom Skalpell eines Pathologen aufgeschlitzt und seziert? Oder lag er im Koma: hoffnungslos in ein imaginäres neues Leben verstrickt, auf Geheiß eines verwüsteten, sterbenden Gehirns. Und dennoch, dennoch…
»Süßer?«, fragte die Bedienung. »Soll ich nun nachschenken oder nicht?«
»Ich … äh … ich glaube, ich trinke stattdessen lieber eine Tasse Kaffee, wenn das möglich ist.«
»Aber klar doch. Einen Irish Coffee vielleicht?«
»Nein, einen gewöhnlichen Kaffee. Etwas Sahne,
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