Replay - Das zweite Spiel
Ausgabe datierte vom 6. Mai 1963. Jeff starrte auf die Ziffern, in der Hoffnung, dass ihm eine rationale Erklärung für das alles einfallen würde.
Es fiel ihm keine ein.
Die Zimmertür schwang auf, und der Innenknopf schlug gegen das Bücherregal. So wie er es immer getan hatte.
»He, was zum Teufel machst du noch hier? Es ist Viertel vor elf. Ich dachte, du hättest um zehn eine Prüfung in amerikanischer Literatur.«
Martin stand in der Tür, in der einen Hand eine Coke, in der anderen einen Stapel Lehrbücher. Martin Bailey, Jeffs Erstsemester-Zimmergenosse; sein bester Freund auf dem College und in den Jahren danach.
Martin hatte sich 1981 umgebracht, unmittelbar nach seiner Scheidung und dem darauf folgenden Bankrott.
»Was willst du machen?«, fragte Martin. »Dir ein Ungenügend geben lassen?«
Jeff musterte benommen seinen längst toten Freund: das dichte schwarze Haar, das noch keine Geheimratsecken aufwies, das faltenlose Gesicht, die strahlenden, jugendlichen Augen, die noch keinen nennenswerten Schmerz gesehen hatten.
»Hey, was ist los? Bist du okay, Jeff?«
»Ich … fühl mich nicht besonders.«
Martin lachte und warf die Bücher auf sein Bett. »Was du nicht sagst! Jetzt weiß ich, warum mich mein Dad davor gewarnt hat, Scotch und Bourbon zu mischen. Mann, das war ja ein richtiges Schätzchen, das du gestern Abend bei Manuel aufgerissen hast. Judy hätte dich umgebracht, wenn sie da gewesen wäre. Wie heißt sie?«
»Ahh…«
»Komm schon, so betrunken warst du nicht. Hast du vor, sie anzurufen?«
Jeff wandte sich mit wachsender Panik ab. Es gab tausend Dinge, die er Martin sagen wollte, aber nichts davon hätte mehr Sinn ergeben als diese verrückte Situation an sich.
»Was ist los, Mann? Du siehst richtig daneben aus.«
»Ich … äh … ich muss raus. Ich brauche etwas frische Luft.«
Martin runzelte verwundert die Stirn. »Yeah, ich schätze, ja.«
Jeff schnappte sich eine Baumwollhose, die auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch lag. Dann öffnete er den Schrank neben dem Bett und entdeckte darin ein indisches Hemd und eine Cordjacke.
»Geh zur Krankenstube«, sagte Martin. »Erzähl ihnen, du hättest die Grippe. Vielleicht lässt Garrett dich die Prüfung nachschreiben.«
»Ja, sicher.« Jeff zog sich rasch an und schlüpfte in ein Paar Korduanschuhe. Er stand kurz davor zu hyperventilieren und musste sich zwingen, langsam zu atmen.
»Denk an die Birds heute Abend, okay? Paula und Judy treffen sich mit uns um sieben im Dooley’s. Vorher wollen wir noch einen Happen essen.«
»Richtig. Bis dann.« Jeff trat auf den Korridor und schloss die Tür hinter sich. Er fand die Treppe und rannte drei Stockwerke hinunter, mechanisch mit einem »Hey!« antwortend, wenn einer der jungen Männer, an denen er vorbeikam, seinen Namen rief.
Die Eingangshalle war so, wie er sie in Erinnerung hatte: das Fernsehzimmer rechts, jetzt leer, abends bei Sportübertragungen und Raketenstarts immer überfüllt; eine Traube von kichernden Mädchen, die am Fuß der Treppe, die sie nicht hinaufgehen durften, auf ihre jeweiligen Freunde warteten; Coke-Automaten gegenüber dem schwarzen Brett, wo Studenten Zettel anklebten, auf denen sie Gebrauchtwagen, Zimmer, Fahrten nach Macon, Savannah oder Florida entweder suchten oder anboten.
Draußen stand der Hartriegel in voller Blüte und durchflutete den Campus mit einem rosa und weißen Leuchten, das vom sauberen weißen Marmor der würdevollen klassizistischen Gebäude reflektiert wurde. Das war Emory, daran gab es keinen Zweifel: die gekünsteltste Anstrengung des Südens, eine Universität im Stil der klassischen Ivy League zu erschaffen, eine Universität, welche die Region ihr Eigen nennen konnte. Die gewollt zeitlose Architektur war verwirrend - während er durch den viereckigen Innenhof trabte, vorbei an der Bücherei und der juristischen Fakultät, wurde Jeff klar, dass es ebenso gut 1988 wie 1963 sein konnte. Es gab keine klaren Hinweise, nicht einmal in der Kleidung und den Frisuren der Studenten, die auf den Rasenflächen umherschlenderten. Die Jugendmode der Achtziger war, vom postapokalyptischen Punk-Stil einmal abgesehen, von der seiner frühen Collegetage praktisch nicht zu unterscheiden.
Gott, die Zeit, die er auf diesem Campus verbracht hatte, die Träume, die hier ausgebrütet worden waren und sich niemals erfüllt hatten … Hier war die kleine Brücke, die zur Konfessionsschule führte; wie oft war er dort mit Judy Gordon entlangspaziert?
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