Replay - Das zweite Spiel
ausgelassen herumzutoben, wie er es früher einmal getan hat, zufrieden damit, ihr einfach nahe zu sein, besänftigt von der beruhigenden Musik.
Jeff beobachtete das Gesicht seiner Tochter, während sie spielte, ihre weiche, blasse Haut, eingefasst von den dunklen Locken ihres Haars. Anspannung lag in ihrem Gesichtsausdruck, doch er wusste, dass sie nicht von der Konzentration auf die Noten oder das Tempo des Stückes herrührte. Ihre natürliche Begabung für Musik war so groß, dass sie sich niemals anzustrengen brauchte, um sich die Grundlagen einer Komposition einzuprägen oder sie einzustudieren. Der Ausdruck ihrer Augen zeugte vielmehr von Entzücken, von einem Verschmelzen mit der wehmütigen Melodie der trügerisch einfachen kleinen Bagatelle.
Sie gestaltete den Schlussteil aus Akkorden und Doppelnoten über einer mehrfach wiederholten langen Pedalnote mit geschicktem Legato, und als sie fertig war, saß sie eine Weile stumm da, kehrte von dem Ort zurück, an den die Musik sie entführt hatte. Dann lächelte sie vergnügt, und ihre Augen waren wieder die eines verspielten Mädchens.
»Ist das nicht schön?«, fragte Gretchen kindlich-unbefangen und nur bezogen auf die Schönheit der Musik an sich.
»Ja«, sagte Jeff. »Fast so bezaubernd wie die Pianistin.«
»O Daddy, lass das.« Sie errötete und schwang sich übermütig vom Hocker. »Ich werd ein Sandwich essen. Willst du auch eins?«
»Nein, danke, mein Schatz. Ich glaube, ich warte bis zum Lunch. Deine Mutter müsste jeden Moment aus der Stadt zurückkommen. Wenn sie heimkommt, sag ihr, ich mache einen Spaziergang am Fluss, okay?«
»Okay«, rief Gretchen und lief in die Küche. Chumley wachte auf, gähnte und trottete ihr in seinem eigenen gemächlichen Tempo nach.
Jeff ging nach draußen und folgte dem Weg durch den Wald. Im Herbst war die Ulmenallee wie ein orangeroter Tunnel, wie der eine halbe Meile lange Schaft einer ihn umhüllenden Flamme. Als er daraus auftauchte, sah er zuerst die ausgedehnte Wiese, die sich sanft zum Hudson absenkte, dann die steilere Senke hundert Meter zur Linken, wo mehrere Wasserfälle kaskadenartig in die Tiefe hinabstürzten. Der dramatische Zugang zu diesem Ort verfehlte niemals seine Wirkung und löste stets einen Schauer der Ehrfurcht bei ihm aus. Jedes Mal staunte er, dass etwas so Schönes existieren konnte, und empfand Stolz darüber, dass es ihm gehörte.
Er stand nahe am Scheitelpunkt der abfallenden Rasenfläche, vertieft in die Aussicht. Zwei kleine Boote bewegten sich unter den leuchtenden Regenbogenfarben des Wasserfalls auf der gegenüberliegenden Seite geräuschvoll den Fluss hinunter. Drei kleine Jungs schlenderten am anderen Ufer entlang, warfen lässig Kieselsteine ins vorbeiströmende Wasser. Hinter ihnen lag auf der Spitze einer Erhebung ein stattliches Haus, weniger groß als Jeffs, aber immer noch eindrucksvoll.
In drei Monaten würde der Fluss zugefroren sein, ein riesiger weißer Highway, der sich nach Süden zur Stadt hin und nach Norden in Richtung der Adirondacks erstreckte. Die Bäume würden ihrer Blätter beraubt, aber trotzdem nicht nackt sein; Schnee würde ihre Äste schmücken, und irgendwann würden noch die kleinsten Zweige von einem Zylinder aus Eis umschlossen sein und zu Millionen im winterlichen Sonnenschein glitzern.
Dies war das Land, das County, das Currier und Ives zum amerikanischen Ideal erhoben hatten; sie hatten von dieser speziellen Aussicht sogar eine Skizze angefertigt. Wenn er hier stand, fiel es ihm leicht zu glauben, dass sich alles, was er getan hatte, gelohnt hatte. Wenn er hier stand - oder Gretchen in den Armen hielt, das Kind, nach dem er und Linda sich gesehnt hatten, das sie aber nicht hatten bekommen können.
Nein, er würde seine Tochter nicht nach Concord schicken. Das hier war ihr Zuhause. Hierher gehörte sie, bis sie alt genug war, selbst darüber zu entscheiden, ob sie es verlassen wollte. Wenn dieser Tag kam, würde er sie unterstützen, ganz gleich, welche Entscheidung sie treffen würde, doch bis dahin…
Etwas Unsichtbares durchbohrte seine Brust, schmerzhafter und stärker als alles, was er je gefühlt hatte … außer einmal.
Er fiel auf die Knie, versuchte sich zu erinnern, welcher Tag es war, wie spät es war. Sein starrer Blick nahm die Herbstszenerie auf, das Tal, das eben noch das Sinnbild wiedererlangter Hoffnung und unbegrenzter Möglichkeiten gewesen war. Dann fiel er auf die Seite, das Gesicht vom Fluss abgewandt.
Jeff
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