Replay - Das zweite Spiel
Winston starrte hilflos den orangeroten Ulmentunnel an, der ihn zu dieser Wiese des Versprechens und der Erfüllung geführt hatte, und dann starb er.
7
E r war umgeben von Dunkelheit und von Schreien. Ein Paar Hände umklammerte seinen rechten Arm, die Fingernägel bohrten sich durch den Stoff seines Hemdsärmels.
Vor sich sah Jeff ein Abbild der Hölle: Weinende Kinder, die im Laufen schrien und stolperten, ohne den schwarzen geflügelten Wesen entkommen zu können, die auf die Kinder herabstießen und auf ihre Gesichter, Münder und Haare einhackten…
Dann zog eine perfekt gestylte Blondine zwei der kleinen Mädchen in ein Auto, brachte sie vor dem Angriff in Sicherheit. Er sah sich einen Film an, begriff Jeff, einen Hitchcock-Film: Die Vögel.
Der Druck ließ zusammen mit der Intensität des Geschehens nach, und als er den Kopf zur Seite wandte, erblickte er Judy Garland, die mädchenhaft-verlegen lächelte. Zu seiner Linken schmiegte sich Judys Freundin Paula in die schützende Armwölbung des jungen Martin Bailey.
1963. Alles hatte von neuem begonnen.
»Wie kommt es, dass du heute Abend so still bist, Liebling?«, fragte ihn Judy auf dem Rücksitz von Martins Corvair, als sie nach dem Film zu Joe’s and Moe’s fuhren. »Du findest doch nicht, es war dumm von mir, mich so zu fürchten, oder?«
»Nein. Nein, überhaupt nicht.«
Sie verschränkte ihre Finger mit seinen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Okay, dann findest du also nicht, dass ich ein Dummerchen bin.« Ihr Haar war frisch gewaschen, und sie hatte sich ein paar Tropfen Lanvin auf den schmalen, bleichen Nacken getupft. Ihr lieblicher Duft war genau der gleiche wie an jenem peinlichen Abend in Jeffs Wagen vor fünfundzwanzig Jahren … und wie fast ein halbes Jahrhundert zuvor, in der gleichen Nacht.
Alles, was er erreicht hatte, war ausgelöscht: sein Finanzimperium, das Haus in Dutchess County … Doch was am schlimmsten war: Er hatte sein Kind verloren. Gretchen mit ihrer schlaksigen, fast schon erwachsenen Art und den intelligenten, liebevollen Augen existierte nicht mehr. Sie war tot, oder noch furchtbarer: In dieser Realität hatte es sie nie gegeben.
Zum ersten Mal in seinem langen, zerrissenen Leben verstand er Lears Klage über Cordelia:
… Oh, du kehrst nimmer wieder,
Niemals, niemals, niemals, niemals, niemals!
»Was war das, Schatz? Hast du was gesagt?«
»Nein«, flüsterte er und zog das Mädchen an seine Brust. »Ich hab nur laut gedacht.«
»Mmmm. Ich würd einiges dafür geben, zu wissen, was du jetzt denkst.«
Kostbare Unschuld, dachte er, selige süße Ahnungslosigkeit, die nichts von den Wunden weiß, die ein wahnsinnig gewordenes Universum schlagen kann.
»Ich hab überlegt, wie viel es mir bedeutet, dich hier bei mir zu haben. Wie gut es mir tut, dich zu umarmen.«
Seine alte Internatsschule außerhalb von Richmond war ebenso wie der Campus von Emory unverändert geblieben. Nur einige Details schienen von seinen Erinnerungen abzuweichen: Die Gebäude wirkten kleiner und der Speisesaal lag näher am See, als er es im Gedächtnis hatte. Diese Art von unbedeutender Diskontinuität erwartete er inzwischen geradezu, war er doch zu dem Schluss gekommen, dass sie eher auf einem fehlerhaften Gedächtnis als auf einer konkreten Veränderung im Wesen der Dinge beruhte. Diesmal waren fast fünfzig Jahre der verblassenden Erinnerung vergangen, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Ein ganzes Erwachsenenleben, auch wenn es in zwei Leben aufgeteilt gewesen war und jetzt wieder von vorn begonnen hatte.
»Behandeln sie dich am College gut?«, fragte Mrs. Braden.
»Nicht schlecht. Wollte einfach nur ein paar Tage wegkommen. Dachte, ich komme mal rauf und seh mir die alte Schule an.«
Die pummelige kleine Bibliothekarin lachte mütterlich. »Es ist noch nicht einmal ein Jahr her, seit du den Abschluss gemacht hast, Jeff. Schon so früh nostalgische Gefühle?«
»Ich schätze, ja.« Er lächelte. »Es kommt mir viel länger vor.«
»Warte, bis es zehn oder zwanzig Jahre sind, dann wirst du sehen, wie weit weg einem all das Vorkommen kann. Ich frage mich, ob du dann immer noch wiederkommen und uns besuchen wollen wirst.«
»Bestimmt werd ich das.«
»Das hoffe ich. Es tut gut zu sehen, was aus den Jungen wird, wie ihr alle mit der Welt dort draußen zurechtkommt. Und ich glaube, du wirst es schon schaffen.«
»Danke, Ma’am. Ich tue mein Bestes.«
Sie sah auf die Uhr, blickte dann zerstreut zur Eingangstür
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