Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
blauen Blazern eilten mit finsteren Blicken umher. Einer mit schneeweißem Haarschopf überragte alle um Kopfeslänge. Er kam auf Edmund zu und stellte sich als Anton vor.
„Für Sie ist ein Tisch reserviert, Herr Konrad, und Sie werden erwartet. Sie wollen mir bitte folgen.“
Er führte ihn zu einem Nischenplatz mit zwei Gedecken, an dem ein junger Bursche saß, der sich jetzt respektvoll erhob. Edmund war sprachlos, seine Hände umkrampften die oberste Sprosse des Stuhls vor ihm.
„Gerd!“, rief er fassungslos. „Du?“
„Es tut mir so leid, Herr Konrad.“
Sieh an, es tat ihm leid! Was dachte der Bengel sich? Seine Streiche hatten sich schon immer gewaschen – aber das hier ging entschieden zu weit. Welchem Clan gehörte er an? Am Ende der Osterferien hatte sich Gerd Schäfer von seinen Großeltern in Oberbayern verabschiedet und war seitdem verschwunden – im Nebel seiner Null-Bock-auf-Schule-Stimmung. Man ahnte, dass er in zweifelhafter Gesellschaft untergetaucht war – vermutete allerdings, jenseits deutscher Grenzen.
„Willst du mir bitte sagen, was hier gespielt wird?“
„Da kommt Anton. Geben wir erst unsre Bestellungen auf.“
Die Anwesenheit des Schülers nahm der grotesken Situation ein wenig die Spitze. Zorn stieg in Edmund auf und die Illusion von einem Dummejungenstreich, fies, aber harmlos. Wofür wollte der Bub sich an ihm rächen? Und in welcher Beziehung stand er zu dieser mysteriösen Einrichtung? Er konnte wohl kaum der Eigentümer sein. Edmund sah dem Übeltäter fest in die Augen. Gerd hielt irritiert dem strengen Blick stand.
Sie wandten sich der Speisekarte zu. Zu seiner Überraschung verspürte Edmund jetzt Appetit. Vor wenigen Minuten noch hätte er an Essen nicht einmal denken dürfen. Er wählte die Nummer drei: Kraftsuppe mit Markklößchen, sodann Lammfilet mit Prinzessbohnen und Petersilienkartoffeln, hinterher Sahnepudding mit frischen Himbeeren. Gerd schloss sich seiner Wahl an.
„Zu Ihrer Frage, Herr Konrad: Wie Sie sich denken können, kommen wir hier nicht mehr heraus. Das Schlimme dabei ist ...“
„Halt mal! Was heißt wir? Du auch nicht?“
„Ja, sicher! Was denn sonst?“
„Ich dachte …“
„... ich stünde auf der Seite der Entführer!“ Gerd lachte bitter auf. „Was ich sagen wollte: Das Schlimme dabei ist, wir sind für die Welt verschollen. Ohne Abschied verschwunden. Unsere Angehörigen müssen glauben, wir seien davongelaufen. Meine Eltern jedenfalls, weil ich oft solchen Humbug von mir gegeben hatte, ohne je im Ernst daran zu denken. Das schafft mich am meisten.“
Edmund verschlug es die Sprache. Er sah seinen Schüler unverwandt an und der fuhr fort:
„Diese Hölle, der niemand entkommt und die sich zunächst als Schlaraffenland geriert, frisst uns auf mit Haut und Haaren. Ich bin zu Ihrem Stadtführer bestimmt, hab also den Auftrag, Sie nach unserer Mahlzeit in Repuestos herumzuführen; durch Gasse und Pfade“, verfiel er jetzt ins Frankfurterische, „die Gasse verlaufe von Ost nach West un sin nach Blume benannt, die Pfade von Nord nach Süd nach Vögeln. Die wichtigsten Bauten und Einrichtungen soll ich Ihne zeige, die Unterkünfte, das Forum, den Frühstücks-, den Fitness- und Gymnastiksaal, die Schwimmhallen und Liegewiesen und die vier anderen Restaurants. Außer dem ‚Palmenhof‘ hier gibt es noch die ‚Rosenstube‘, den ‚Tulpenkorb‘, den ‚Liliengarten‘ und das ‚Orchideenhaus‘. Den Rest könne Sie später selbst auskundschafte.“
„Dann führst du mich zu allererst zum Boss dieses Etablissements oder zu dessen Vertreter, damit ich paar Takte mit ihm rede, ehe ich sonst etwas tue oder mich sonst wo herumführen lasse.“
„------“
„Warum siehst du mich so an?!“
Gerds Blick versetzte ihn in Unruhe.
„Herr Konrad, hier ist nicht die Welt, sondern der Orkus. Einen Boss oder einen Vertreter oder Geschäftsführer oder überhaupt jemanden der Besitzer oder Verwalter von Repuestos hat hier unten noch nie jemand zu Gesicht gekriegt. Einzig wir, ihre Opfer, begegnen einander.“
„Und das Personal, die Bedienungen, die Betreiber der Restaurants und der Einrichtungen, die du mir zeigen sollst, können die …?“ „Nö, die gehörn net zu den Gangstern und haben keinen Kontakt zu diesem Clan, sie sind entführt und gefangen wie Sie und ich. Die Jobs erledigen sie freiwillig, versuchen, sich durch Arbeit abzulenken statt durchzudrehen.“
„Aber …“ Edmund hielt inne, überwältigt. Er
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