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Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Titel: Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne Reuther
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so‘, schrie er, ‚sondern verhindert, dass die Rote Armee uns überrollte und ganz Europa bolschewisierte, was die Sowjets schon nach Ende des Ersten Weltkrieges beschlossen hatten. Zu dem Zweck hatten sie sich an der Westgrenze der Sowjetunion eingefunden.
    Und die Engländer? Die haben die Polen aufgestachelt, lieber den Krieg zu riskieren, als uns den Korridor nach Danzig zu gewähren. Dabei suchten die Briten seit Langem fieberhaft nach einem Weg, gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen, und sie fanden ihn. Veranlassten die polnische Regierung, von der Bereitschaft zu einer friedlichen Lösung des Danzig-Korridor-Problems abzuweichen und Hitlers akzeptablen, mit Zugeständnissen untermauerten Vorschlägen eine strikte Absage zu erteilen. Den Briten war klar, dass Hitler schon allein im Hinblick auf die polnischen Gräuel an Deutschen die Danziger Bevölkerung nicht im Stich lassen konnte, ihr den Zugang zum Reich ermöglichen musste. So forcierte England den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen, schuf sich auf diese Weise den Vorwand, Deutschland den Krieg zu erklären, Deutschland, das unter keinen Umständen wieder auf die Hinterfüße kommen sollte. Diese Körperhaltung reklamierte England einzig und allein für sich. Und das seit Jahrhunderten‘.“
    Scholz strich sich die Strähnen aus der Stirn. Er hatte sich in Rage geredet – Raabe konnte sich aussuchen, ob die Ausführungen in vollem Umfang als Wiedergabe des jugendlichen Ausbruchs zu werten waren oder ein Großteil väterlicher Empathie zugesprochen werden musste.
    „Und England hat uns den Krieg erklärt“, fuhr er fort, „und Frankreich hat uns den Krieg erklärt und Amerika hat uns den Krieg erklärt, so war das alles und nicht umgekehrt! – Das war in etwa die Rede, die er uns entgegenschleuderte, ehe er – außer Rand und Band – die Tür hinter sich zuschlug. Er hat nie wieder mit uns gesprochen. Wir hatten keinen Zugang mehr zu unserem Bub. Er ging morgens zur Schule, kam mittags heim und ging in sein Zimmer. Ernährte sich von Pommes und Cola aus der Bude unten an der Endstation der Trambahn. Gemeinsame Mahlzeiten gab es nicht mehr. Irgendwann schloss er sich einer Gruppe Rechtsradikaler an, die sich donnerstagabends in einer Kneipe traf, in der Piratenklause eben, auf die er durch seinen Aushilfsjob daselbst aufmerksam geworden war. Davon haben wir jetzt erst erfahren.
    Bei der letzten Zusammenkunft muss etwas vorgefallen sein, was ihm sehr zu schaffen gemacht hatte. Er kam mit verweinten Augen heim und schloss sich in seinem Zimmer ein. Tags darauf ging er nicht zur Schule und antwortete meiner Frau durch die geschlossene Tür, er müsse büffeln für die Mathe-Arbeit am nächsten Tag und man solle ihn in Ruhe lassen.“
    Die Polizisten bedankten sich bei Herrn Scholz für seine Offenheit, verabschiedeten sich und fuhren nach Seckbach.
     
    Der Wirt der Piratenklause hieß Otto Lutz und wirkte auf die Beamten wie ein Pfarrer oder Dorfschullehrer. Anfang vierzig, mittelgroß, in Anzug, Schlips und Kragen. Was hatte jemand wie er in solcher Kneipe verloren? Er lud die beiden an den Stammtisch und servierte wortlos drei Gläser Mineralwasser.
    „Sie kommen wegen des ermordeten Schülers“, riet er in leichtem Sächsisch.
    Raabe nickte und trank einen Schluck Wasser.
    „Ja. Er hat bei Ihnen gejobbt. Wann war er zum letzten Mal hier?“
    „Zwei Tage, bevor er umgebracht wurde. Nicht, um mir zur Hand zu gehen, sondern sich mit anderen jungen Leuten im Raum nebenan zu treffen, wie jeden Donnerstagabend.“
    Er versuchte, ohne Dialekt zu sprechen. Es gelang ihm nur dürftig.
    „Zur Sitzung der Rechtsextremisten.“
    Lutz hob abwehrend die Hände.
    „Entschuldschense, aber ich kann das nicht mehr hören. Man spricht von Linken, aber nicht von Linksextremisten, aber immer von Rechtsextremisten und selten von Rechten. Und obwohl ich weder mit den einen noch den anderen sympathisiere, muss ich doch sagen, dass mir die Rechten immer noch lieber sind als die Linken, sie sind einfach das kleinere Übel, global gesehen, weil bedeutungslos. Die Linken, eine echte Bedrohung, werden hofiert, die Rechten, total bedeutungslos, werden gemobbt.“
    „Wie viele sind es donnerstagabends …?“
    „Die sich hier treffen, das sind keine Extremisten, es sind schlichtweg Rechte. Ihre Ansichten sind wider den Zeitgeist, sie müssen damit hinter dem Berg halten. Demokratie hin, Meinungsfreiheit her – Phrasen, nichts als Phrasen. In Diktaturen

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