Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
die Kabine und warte ab, bis der Lift ferngesteuert hochsaust, das wird er ja wohl, um oben für das nächste Opfer bereitzustehen. Pro Einstiegsfalle werden jede Woche zwei Leute in die Tiefe geschickt. Im ungünstigen Fall muss ich vier Tage ausharren.
Ist der Lift aber bereits in Erwartung des nächsten Opfers oben, steige ich in den Schacht, setze die Funktion der Anlage außer Kraft, damit der Lift mir nicht auf den Kopf knallt, hangle mich an den Zugseilen die dreißig oder vierzig Meter aufwärts bis zur Kabine und hebe den Boden von unten her so weit an, dass ich durchschlüpfen kann ... als Student habe ich bei OTIS gejobbt und kenn‘ mich damit aus. Ich klettere sodann aus der Kabine, verstecke mich hinter der Rutsche und achte auf die Geräusche oben im Laden. Sobald Ruhe einkehrt, ist Feierabend, dann harre ich noch eine Weile aus, bis es Nacht ist, erst dann kraxle ich die Rutsche aufwärts. In vielen Nächten habe ich mir die Beschaffenheit der Rutsche in Erinnerung gerufen. Sie ist schmal und an den Seiten gewölbt, ich stemme mich mit allen vieren gegen die Wölbung und ruckel mich zentimeterweise daran hoch, drücke die Falltür über mir auf und komme zum zweiten Mal auf die Welt. Über das Telefon im Laden leite ich das Ende von Repuestos ein.“
Angela sah Edmund mit einem Gemisch aus Sorge und Bewunderung an.
„Ein Wahnsinnsunterfangen“, sagte sie langsam.
„Aus einer Wahnsinnssituation heraus“, antwortete er.
Sie tranken ihren Tee und studierten die ineinander verschlungenen Drachen im Muster der Tischdecke. Edmund zeichnete sie mit dem Teelöffel nach, hielt inne, als er Angelas Hand auf seinem Arm spürte. In ihrem Blick lag alles andere als Zuversicht.
„Edmund, der Plan ist illusorisch. Du unterschätzt die Gerissenheit der Bestien. Es ist sinnlos, Edmund, sinnlos.“
Wie recht sie hat ... Und dennoch …
Als lese sie in seinen Gedanken, fuhr Angela fort:
„Selbst wenn es dir gelingt, die blaue Tür zu überwinden und die Akrobatik hinterher obendrein – deine Abwesenheit fällt spätestens zur Frühstücksstunde auf. Was glaubst du wohl, wie lange die brauchen, bis sie dich orten?“
Edmund erschauerte. Angelas Einwände waren einleuchtend. Trotzdem!
Das „Interim“ füllte sich langsam. Er sah Helga zu, wie sie auf einem Wagen Teekannen vor sich herschob und die unterschiedlichsten Teesorten ausgab. Dabei passten sich ihre Gesichtszüge denen des jeweiligen Gastes an, sodass sie ständig zwischen Trübsal, Galgenhumor und Schabernack wechselten. Selten huschte auch ein schwaches Lächeln darüber hinweg.
Edmund wiegte seinen Oberkörper wie ein Jude vor der Klagemauer vor und zurück, die Hände zwischen den Knien flach gegeneinandergedrückt.
„Hast recht. Der Plan ist verwundbar. Es muss noch eine plausible Erklärung für meine Abwesenheit her.“ Oder ein anderer Plan. Der Tunnel wich noch immer nicht aus seinem Sinn – aber an seinem Ende leuchtete kein Licht.
Inzwischen war die Musik verstummt. Stimmen drangen vom Nachbartisch herüber. „Ihr Idioten“, sagte ein Hagerer mit großen Ohren, der Edmund schon öfter aufgefallen war, „mit euren Streitereien darüber, wer alles Schuld am Ausbruch der Weltkriege hatte. Ich halte die Nazis noch immer für üble Teufel, aber sie in dem Zusammenhang anzuklagen ist müßig, nicht nur zum Zweiten, sondern auch schon zum Ersten Weltkrieg. Es liegt klar auf der Hand, die Verantwortung trägt einzig und allein der, ohne dessen Willen auf seiner schönen Erde nichts geschieht. Kriege, Genozids und Holocausts oder welche Megaverbrechen sonst noch, auch unser Schicksal hier in diesen Katakomben, alles geht auf seine Kappe.“
„Du liegst total daneben, Lotze. Gott liebt die Menschen ...“
„Dass ich nicht lache! Was glaubst du wohl ...“
Der Rest ging im Forellenquintett unter, Helga hatte eine neue Platte aufgelegt. Angela zuckte zusammen und fuhr mit einer Hand über ihren Leib. Edmund fragte:
„Was ist?“
„Das kann gar nicht sein! Mir war, als hätte das Kind gestrampelt, so weit ist es doch noch nicht! Edmund, sei mir nicht bös, ich leg mich aufs Ohr, Gustav ruft.“ Unvermittelt sprang sie auf und wandelte davon.
Was war denn das jetzt? Er sah ihr kopfschüttelnd nach. Mädchen, dreh du nicht auch noch durch, nicht schon jetzt!
***
Teil 3
Drei Männer der Putzkolonne hatten Bärte, aber das Barthaar aus der Hand des toten Schülers stammte von keinem der drei.
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