Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
hilfreich sein, ja. Ich verspreche mir viel von unserem Rendezvous in der nächsten Woche“, verriet Reinhard augenzwinkernd, „bei Kerzenschein und Babbelwasser. Wenn sie was weiß, streichle ich es aus ihr heraus. Ein nettes Ding übrigens, trotz ihres ziemlich lockeren Lebenswandels. Ihr derzeitiger Liebhaber – nicht der Verlobte, der sitzt im Knast – ist Programmierer bei ELAXY und hat zwei Tage in München zu tun, ist also eine Nacht nicht da ... und die verbringen wir im Hinterstübchen der Blumenboutique. Lolita ist schon ganz scharf auf den Abend. Und sie wird mir sagen, was sie weiß, wenn sie was weiß. Sobald sie eingeschlafen ist, werde ich außerdem noch die Bude inspizieren, vor allem den Safe. Es ist ein Horler , kein Problem für mich.“
„Und ihr Boss?“
„Macht um sechs Feierabend. Er fährt mit der S-Bahn nach Sulzbach. Ich schick ihm Otto hinterher, um ganz sicher zu gehen, dass er nicht noch mal umkehrt, und wenn doch, dass wir es rechtzeitig erfahren.“
„Na, dann viel Spaß.“
Koko zwinkerte ihm zu und spielte mit dem kleinen Mann aus buntem Blech, der neben seiner Federschale stand und Notizzettel bereithielt. Den hatte Beate ihm aus Basel mitgebracht. Reinhard machte keine Anstalten zu gehen. Koko trommelte sanft einen Rhythmus auf die Schreibtischplatte, bis ihm siedend heiß sein Versprechen gegenüber Raabe einfiel.
„Es gibt noch einen wichtigen Auftrag für dich.“
„Her damit.“
„Ich brauche auf schnellstem Wege ein Haar aus dem Bart eines Erwin Kloße, Wöllstädter Straße 12.“
Reinhard dankte für den Auftrag, versprach schnellste Ausführung, machte aber immer noch keine Anstalten zu gehen. Koko stutzte, eine Augenbraue leicht angehoben. Bislang hatte Reinhard immer gewusst, wann eine Unterredung beendet war. Heute saß er da wie angewachsen. Koko hatte noch nie einen Freund rausgeschmissen und wollte heute nicht damit anfangen. Er zappelte – neugierig auf den Inhalt des Sticks von Hans Scholz – und sah Reinhard fragend an.
„Jaja, eine böse Welt“, klagte der mit treuherzigem Blick und massierte sein Kinn, „und das schnöde Geld.“
Koko begriff, lachte und entnahm dem Tresor die zweite, längst fällige Rate und reichte sie über den Tisch, zusammen mit dem Fünfhunderter für Lolita. Er sah dem Burschen grinsend hinterher, wie er wippend davoneilte. Dann setzte er sich an den Computer und öffnete den Stick.
Raabe lag mit dicker Backe daheim auf dem Sofa, den Zahn hatte ihm Dr. Schneider bei dieser Entzündung nicht ziehen können. Als er jetzt Knöpfle anrief, war der völlig aus dem Häuschen, rief atemlos ins Telefon: „Herr Konrad hat mir den Stick gebracht, bin dabei, das Passwort zu suchen, melde mich, Tschüss.“
Als Knöpfle es mit „Piraten“ versuchte, war er endlich drin – und hatte das Tagebuch von Hans Scholz vor sich. Es umfasste einen Umfang von 2,1 MB. Der Junge hatte seinem Computer alles anvertraut, Sorgen und Freuden, Erlebnisse in Schule und Elternhaus, Rendezvous mit Mädchen, Abenteuer mit Freunden, Ärger mit Lehrern, Eltern – Enttäuschungen, Ängste, Wut und Zorn.
Knöpfles Interesse galt zunächst dem Eintrag vom 5. Mai mit dem Titel „Holger, der Dummkopf“. Zufällig wusste er, dass ein Mitschüler von Hans Scholz namens Holger am 8. Mai, also drei Tage später gestorben war. Knöpfle las:
Holger Plättner war gestern zum zweiten Mal nicht beim Treffen. Er wich meinen Fragen eine Woche lang aus, heute kam er zu mir heim und redete Unfug. Er wollte mir nicht verraten, wer ihm den Unsinn eingeredet hat. Holger spinnt. Er behauptet, Erwin sei keiner von uns, sondern ein Marxist, von „links ganz oben“ – von einem Sowjetmenschen namens Duda dazu eingesetzt, uns dynamisch zu radikalisieren und so die Rechte bei den Bürgern in Misskredit zu bringen. Ein Heer roter Genossen sei über die ganze Bundesrepublik verteilt mit dem Auftrag, mit virtuoser Dialektik unsere gerechte Wut zu schüren und in ungerechten Hass aufzumischen. Uns zu Agitationen zu verleiten, die uns in ein Licht rückten, in dem die Bevölkerung uns sehen soll. Auch das neuste Projekt diene diesem Zweck. Auf diese Weise soll die Distanz der Wähler nach rechts vergrößert und nach links verkleinert werden mit dem Ziel, das Volk völlig auf ihre Seite zu bringen, der Internationalen den Weg zu ebnen und einer neuen Weltherrschaft den Boden zu bereiten. Diese Initiative sei ein Mosaikstein in einem groß angelegten Puzzle,
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