Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
das sogar die Serienentführungen einschließe, von denen man in letzter Zeit so viel höre und lese. Nicht allein Deutschland, ganz Europa sei betroffen und in naher Zukunft werde die ganze Welt unterwandert sein. Wo hat Holger nur den Blödsinn her? Ich habe mir alle Mühe gegeben, ihm diesen Quatsch auszureden. Es kam zum Streit und er lief voller Zorn davon. Ich hoffe, dass er wieder zur Vernunft kommt, der Spinner.
Knöpfle war so in den Text vertieft, dass er vergaß, Raabe wie versprochen anzurufen. Der Eintrag vom 14. Mai galt ebenfalls diesem Plättner und war mit „Skandal des Jahrhunderts“ überschrieben. Es war der Tag seiner Beerdigung nach einem tragischen Unfall.
V on wegen Spinner! Wolfgang ist begraben – und seine Behauptungen stimmen! Ich fasse es nicht. Konnte es bis gestern abend noch immer nicht glauben. Bei der Nachricht von seinem „Unfall“ schwante mir aber, was mir während der Trauerfeier Gewissheit ward, als spräche er aus dem geschlossenen Sarg. Es war kein Unfall. Ich habe Erwin gestern abend auf den Zahn gefühlt. Volltreffer! Er zuckte bei dem Stichwort „Duda“, das ich wie ein Amen als Schlusswort auf seine Gedenkrede für Holger in den Raum posaunte, worauf mich alle fragend betrachteten, zusammen und wurde weiß wie die Wand. Der Blitz aus seinen Augen sprach Bände. Unsere Blicke fetzten sich. Ich hätte aufstehen, ihn vor den anderen entlarven sollen, doch mein Hals war wie zugeschnürt. Konnte weder sprechen noch länger im Kolleg verweilen und verduftete auf Französisch. Vor Erwin muss ich mich jetzt in Acht nehmen.
Ich weiß nun, mein Freund musste sterben, weil er um Erwins Polit-Mandat wusste. Das heißt, Holgers Behauptungen sind alarmierende Wahrheiten. Das ist der Skandal des Jahrhunderts. Wir sind alle angeschmiert. Ich muss die anderen informieren – gleich morgen nach der Schule – und Herrn Konrad auch irgendwie – reden kann man mit dem aber nicht, muss mir was einfallen lassen.
Mechthild hat sich von ihrer Erkältung erholt, heute Abend kommt sie rüber. Die wird geschockt sein, wenn sie hört, dass Holger keineswegs gesponnen hat.
Jetzt knips ich den Ärger aus und konzentrier mich auf die Mathe.
Knöpfles Stirn glühte. Bevor er den File von Anfang an zu lesen begann, mailte er Raabe diese beiden Einträge zu und die sandte der Hauptkommissar nach der Lektüre mit einem dreimaligen „Donnerwetter!“, begleitet von einem Trommelwirbel auf die Tischplatte, seinem Freund Koko ins Büro, obwohl der ja über eine Kopie des Sticks verfügte. Koko reagierte prompt mit einem Anruf.
„Mann, Horst! Das verschlägt einem ja den Atem. Danke, dass du mir das gleich rübergeschickt hast – ich habe noch kein Wort gelesen, den Stick eben erst in den Rechner geschoben, Reinhard war bis vor einer Minute hier. Das Tagebuch Scholz ist echt der Hammer. Was wir jetzt unbedingt brauchen, ist der Ort der ‚rechtsextremen‘ Zusammenkünfte.“
„Haben wir. Nicht nur den Ort, sondern auch die Zeit.“
Raabe klärte Konrad auf. Der holte tief Luft und sagte:
„Ich schleus mich Donnerstagabend in ihre Sitzung ein.“
„Das hatte ich gehofft. Knöpfle und ich werden mit versteckter Kamera in der Wirtsstube sein und die Kandidaten filmen – übrigens gehört Erwin Kloße dazu, von dem du mir ein Barthaar beschaffen sollst.“
„Es wird ja immer schöner, Mann! Horst, da tut sich was!“
Der Hauptkommissar legte nachdenklich den Hörer auf. Das Tagebuch brachte ihn in der Ermittlung im Mordfall Scholz einen Riesenschritt voran – vielleicht sogar lieferten sie eine Spur zur Entführungsmafia. Doch ein Bittertropfen war den Offenbarungen beigemischt: Die Machenschaften der Erzmarxisten brachte die Linke insgesamt in Verruf – auch die SPD und das ging ihm heftig gegen den Strich. Nicht nur, weil es Marion bei ihren politischen Auseinandersetzungen Wasser auf die Mühle gab …
In der Forsthausstraße deckten Beate und Lydia den Tisch fürs Abendessen. Koko hatte angekündigt, dass er pünktlich nach Hause komme. Als er dann eintraf, lotste er sie, ohne ein Wort zu sagen, in sein Arbeitszimmer, rief Raabes Post im Rechner auf und deutete auf den Bildschirm. Mit angehaltenem Atem lasen die beiden Frauen die erstaunlichen Einträge des ermordeten Schülers. Beim Abendessen schilderte Koko ihnen Reinhard Kellermanns erstes Resultat seiner Ermittlungen in der Blumenboutique am Hauptfriedhof. Währenddessen klingelte das Telefon.
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