Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Highlands und kann nur noch an Grace denken.
Als Erstes sehe ich das Feuer, das von Haus zu Haus überspringt, von den Bäumen auf Dächer und dann auf Wände. Wer immer die Brände gelegt hat, hat es bewusst getan, systematisch. Die erste Gruppe Invaliden hat nicht weit von hier den Zaun durchbrochen; der das Werk der Aufseher sein muss.
Das Zweite, was mir auffällt, sind die Leute: Leute, die zwischen den Bäumen hindurchrennen, verschwommene Körper im Rauch. Das erschreckt mich. Als ich noch in Portland lebte, war Deering Highlands verlassen. Es wurde geräumt, als Anschuldigungen laut wurden, dass hier die Krankheit hause. Ich habe noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was es bedeutet, dass Grace und meine Tante jetzt hier leben – oder in Betracht zu ziehen, dass auch andere diesen Stadtteil zu ihrem Zuhause gemacht haben.
Ich versuche vertraute Gesichter auszumachen, als sie an mir vorbeihuschen, schreiend zwischen den Bäumen hindurchschießen. Doch ich kann nichts weiter erkennen als Form und Farbe, Leute, die Bündel mit ihren Habseligkeiten im Arm haben. Kinder weinen und mir bleibt das Herz stehen: Jedes davon könnte Grace sein. Die kleine Grace, die kaum jemals ein Geräusch von sich gegeben hat – sie könnte irgendwo im Halbdunkel schreien.
Ein heißes, glühendes Gefühl pulsiert in mir, als hätten die Flammen ihren Weg in mein Blut gefunden. Ich versuche mich an den Verlauf der Straßen von Deering Highlands zu erinnern, aber mein Verstand rauscht: Ich sehe nur ein Bild der Brooks Street 37 vor mir, von der Decke im Garten und den von der untergehenden Sonne golden getönten Bäumen. Als ich zur Edgewood Avenue komme, weiß ich, dass ich zu weit gefahren bin.
Ich kehre hustend um und fahre den Weg zurück, den ich gekommen bin. Überall um mich herum knackt und kracht es blitzschlagartig: Ganze Häuser stehen in Flammen wie zitternde Gespenster, brennen glühend heiß, mit offenen Türen, Haut, die sich vom Fleisch löst. Bitte, bitte, bitte. Die Worte bohren sich durch meinen Kopf. Bitte. Dann entdecke ich das Straßenschild der Wynnewood Road: Es ist zum Glück nur eine kurze Straße mit drei Häuserblocks. Hier hat sich das Feuer bisher noch nicht so weit ausgebreitet, hat sich im verzweigten Baldachin der Bäume verfangen und springt über die Dächer, eine immer größer werdende Krone in Weiß und Orange.
Inzwischen sehe ich weniger Leute, aber ich höre immer noch Kinder weinen – ein gespenstisches, heulendes Echo.
Ich schwitze und meine Augen brennen.
Als ich das Fahrrad fallenlasse, schnappe ich nach Luft. Ich halte mir das T-Shirt vors Gesicht und versuche hindurchzuatmen, während ich die Straße entlangrenne. Die Hälfte der Häuser hat keine Hausnummern. Ich weiß, dass Grace höchstwahrscheinlich geflohen ist. Ich hoffe, sie war eine derjenigen, die ich zwischen den Bäumen gesehen habe, aber ich kann die Angst nicht abschütteln, dass sie vielleicht irgendwo gefangen ist, dass Tante Carol, Onkel William und Jenny sie vielleicht zurückgelassen haben. Sie hat sich immer in Ecken zusammengekauert und in verborgenen Winkeln versteckt, versucht, sich unsichtbar zu machen.
Ein verwitterter Briefkasten zeigt die Nummer 31 an, ein trostloses, halb verfallenes Haus. Aus den oberen Fenstern dringt Rauch und über das verwitterte Dach züngeln die Flammen. Dann sehe ich sie – oder zumindest glaube ich das. Einen Augenblick bin ich überzeugt, ihr Gesicht, so weiß wie eine Flamme, in einem der Fenster zu sehen. Aber bevor ich sie rufen kann, verschwindet sie.
Ich hole tief Luft, renne über den Rasen und die morschen Stufen hinauf. In der Haustür bleibe ich kurz verwirrt stehen. Ich erkenne die Möbel aus unserem alten Haus, Tante Carols Haus in der Cumberland Street – das ausgeblichene gestreifte Sofa, den Teppich mit den angesengten Fransen und den immer noch leicht sichtbaren Fleck auf den alten roten Sofakissen, wo Jenny mal Traubensaft verschüttet hat. Es ist, als wäre ich direkt in die Vergangenheit gestolpert, aber in eine verzerrte Vergangenheit: eine Vergangenheit, die nach Rauch und nasser Tapete riecht, mit verformten Zimmern.
Ich laufe von Raum zu Raum und rufe nach Grace, sehe hinter Möbeln und in den Wandschränken mehrerer Zimmer nach, die völlig leer sind. Das Haus hier ist viel größer als unser altes und es gibt nicht genug Möbel, um es zu füllen. Sie ist weg. Vielleicht war sie gar nicht da – vielleicht habe ich mir ihr Gesicht
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