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Requiem für eine Sängerin

Requiem für eine Sängerin

Titel: Requiem für eine Sängerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Corley
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ohnehin schon spät. Der Streit ging immer weiter, das hat Leslie noch mitbekommen. Carol sagte etwas wie: «Lass los, lass mich los! Sei nicht albern.» Möglicherweise hatte sie geweint. Octavia muss richtig wütend gewesen sein, sie brüllte und fauchte Carol an, verfluchte sie, sagte, sie würde nicht zulassen, dass sie ihr Leben ruinierte, nachdem sie es so weit gebracht hatte. Leslie dachte daran, umzukehren. Octavia kann schrecklich sein, wenn sie wütend ist, und Carol war wohl völlig aufgelöst. Aber Leslie ist nicht umgekehrt. Sie blieb einfach, wo sie war. Wäre sie gegangen, wäre vielleicht alles anders gekommen, aber Octavia sagt nein, solche Schuldgefühle sind ganz normal.
    Leslie überlegte immer noch, was sie tun sollte, als sie ein grässliches Geräusch hörte – keinen Schrei, nur ein schreckliches, bellendes Schluchzen. Leslie sagt, wie ein Tier, dem wehgetan wird. Sie wollte zurücklaufen, aber dann hörte sie Octavia lachen, ein fröhliches Lachen, und Schritte auf dem Weg. Sie lief, so schnell sie konnte, um außer Sicht zu sein. Sie sagt, sie dachte, es wäre alles in Ordnung. Sie glaubte, mit Carol wäre alles in Ordnung, die beiden hätten sich versöhnt. Aber natürlich war es nicht so.
    Ich kann nachts nicht mehr schlafen. Ich bin krank. Vielleicht bin ich sogar verrückt. Octavia war wunderbar. So ruhig und sanft. Sie hat alles erklärt. Leslie trifft keine Schuld, mich auch nicht; weder sie noch sonst jemand hätte etwas tun können. Octavia ist jeden Tag hier gewesen und hat mich angefleht, ihr keine Schuld zu geben, mir keine Schuld zu geben. Aber ich verstehe das Lachen nicht. Wenn ich es erwähne, sieht sie mich nur an, als wäre ich verrückt, und sagt, Leslie hat sich was eingebildet. Aber sie hat es gehört, ich bin ganz sicher. Ich kann mir nur nicht erklären, warum Octavia gelacht hat.
     
    Fenwick konnte sich genau an die Kreidenische erinnern, von der Carol in den Tod gestürzt war. Wie die Simse terrassenförmig abgestuft nach unten führten und eigentlich selbst den schlimmsten Sturz hätten bremsen müssen. Er erinnerte sich an die Diskussion, die sie geführt hatten, ihre Vermutung, dass Carol, um den anderen einen Streich zu spielen, nach unten geklettert und abgestürzt war.
    An Andersons Aussage erinnerte er sich ebenfalls deutlich – sie sei nicht in Carols Nähe gewesen, hatte sie gesagt. Eine Lüge. Sie war Sekunden vor ihrem Tod bei ihrer Freundin gewesen, hatte sie sich selbst überlassen, war zum Bus zurückgekehrt und hatte ihre Lügen schon parat gehabt. Warum?
    Noch einmal ging er seine vier Varianten durch, wie Carol zu Tode gekommen sein konnte: Unfall, Selbstmord, von einem Fremden ermordet, von jemandem ermordet, den sie gekannt hatte. Je mehr er über Carol erfahren hatte, desto fester hatte er an einen Unfall geglaubt – bevor er die Seiten aus Katherines Tagebuch zu Gesicht bekommen hatte. Selbstmord war eine Möglichkeit; Leslie hatte sie weinen hören, aber doch wohl eher wegen des Streits und nicht aus Verzweiflung. Und alle hatten davon gesprochen, wie viele Möglichkeiten ihr offen gestanden hätten und welche neuen Pläne sie gehabt habe.
    Blieb Mord. Er war Mord stets so nahe, dass der Geruch sich wie der von Formaldehyd in seinen Haaren und seiner Kleidung festgesetzt hatte. Er nahm ihn überall wahr. Mord blieb als Möglichkeit, wenn alle Alternativen eliminiert waren. Nach zwanzig Jahren konnte er sie nicht kategorisch ausschließen und ohne ein eindeutiges Motiv ließ sich aus dem verdammten Tagebuch kein Fall ableiten.
    Sein Kaffee war kalt, und die pflichtbewusste Sekretärin brachte, als hätte sie es geahnt, eine frische Tasse. Er griff nach dem großen braunen Umschlag; der Brief war durchleuchtet worden, und trotzdem verkrampfte er sich, als er die Klappe aufriss. Im Innern befand sich das kurze Anschreiben einer Anwaltskanzlei in London, von der er noch nie gehört hatte; sie erklärten, dass sie den Inhalt des Briefes im Falle des Todes ihres Klienten ungeöffnet an ihn weiterleiten sollten.
    Er machte den Umschlag auf, der in dem größeren gewesen war, und löste das breite Gummiband um die Papiere darin. Zuoberst lag ein versiegelter weiterer Umschlag, auf dem in geschwungener Handschrift sein Name und Dienstgrad standen. Die Notiz darin war kurz.
     
    Fenwick, wenn Sie das lesen, bin ich tot, aber wenn ich tot bin und Sie leben, besteht die Chance, dass sie doch noch der Gerechtigkeit zugeführt wird.
    Diese Dokumente sind

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