Requiem für eine Sängerin
singen, bis die Wiederholung des «Dies irae», ebenso laut und Ehrfurcht gebietend, durch das heilige Gemäuer schallte.
Die zierliche Mezzosopranistin stand allein wieder auf, während der Chor sich setzte. Ihre wunderbar weiche Stimme drang selbst bis zu den entferntesten Wänden vor. Fenwick hatte inzwischen begriffen, wie die Notensysteme zu lesen waren, und konnte ihrem Solo ohne Schwierigkeiten folgen. «Ach, was werd ich Armer sagen, welchen Anwalt mir erfragen …»
Nun stand auch Octavia auf, und ihre Gesichtsfarbe wechselte von Elfenbein zu Leichenblass, als sie einstimmte. Sie sang mit einer vollen, samtenen, klaren Stimme. Selbst die schwatzenden Polizisten verstummten für einen Moment und hörten zu. Sie ließ den Blick über die leeren Sitzreihen schweifen, ohne auch nur einmal in die Noten zu schauen. Ihre Angst war offensichtlich. Und etwas unterhalb von ihr war Nightingales Nervosität fast greifbar; sie hatte die Hände so fest ineinander verschränkt, dass die Knöchel weiß hervortraten, damit sie nicht zitterten.
Dann stand der Chor auf, und die Anspannung legte sich. Fenwick spürte, wie alle ringsum sich wieder ihren Aufgaben zuwandten. Die Probe ging weiter; der Chor stand auf und setzte sich; die Solisten erhoben sich als Quartett oder einzeln und setzten sich wieder, immer von den Wogen der Musik getragen. Octavia wirkte an keiner anderen Stelle mehr so isoliert und verwundbar, daher entspannten sich alle bis auf Fenwick und Nightingale.
Fenwick machte einen Spaziergang durch den feuchten Nachmittag, zu nervös, um etwas zu essen oder sich zu konzentrieren, und ärgerte sich darüber, dass Blite und Campbell ihn eindeutig überflüssig fanden. Er hatte sich so an die Geräuschkulisse der Probe gewöhnt, dass ihn die Stille draußen aus der Fassung brachte. Also ging er wieder hinein, in der Annahme, die Probe sei vorbei.
Er irrte sich. In der Kathedrale stand der Chor und sang leise zur flüsternden Begleitung des Orchesters. Eine Solistin stand vor ihnen, deren Blässe zu ihrem Schwarz und Blau einen starken Kontrast bildete.
Der Vorsitzende winkte ihn zu sich und sagte kaum hörbar: «Das ist der Teil, von dem ich Ihnen erzählt habe, das ‹Libera me›.»
Octavia hauchte ihren Text von Zittern und großer Furcht. Dabei sah sie Fenwick unverwandt an und ihre Augen waren selbst auf die Entfernung dunkel und feucht. Dann hämmerte der Chor ein letztes Mal «Dies irae» in die Stille und verkündete seine schreckliche Warnung, während Octavia nur gebannt dastand und wartete. Fenwick wollte nach vorn gehen, um ihr näher zu sein, um ihr zu zeigen, dass er da war, aber der Vorsitzende, dessen pummelige Hand überraschend kräftig war, hielt ihn am Ärmel fest.
«Warten Sie. Sie ist noch nicht fertig. Und das hohe B, von dem ich Ihnen erzählt habe, kommt jetzt jeden Moment.»
Tatsächlich verstummten alle anderen, und Octavias Stimme hallte allein durch die alte Kathedrale. Wehmütig, aus tiefstem Herzen, eine Bitte um Frieden. Sie flehte um Vergebung für die Unzulänglichkeiten und Schwächen der Menschen, bat Gott um Verständnis. Fenwick wusste, den Zuhörern würde sie eine einzigartige Aufführung bescheren, aber den einen, ihren unsichtbaren Mörder, bat sie um ihr Leben.
Die Probe endete mit vollkommener Stille. Dann fingen Chor und Orchester an zu lachen und die Solisten zu beklatschen, lobten sich selbst, vergötterten Octavia. Sie war grandios gewesen, nicht nur ihre Stimme, auch die emotionale Kraft ihres Gesangs hatte alle gerührt. Sie stieg von der Bühne und sah Nightingale ernst an.
Der Mann, der hinter dem Grab eines Ritters hervor auf Octavia zugerannt kam, war nur ein Schemen am Rand des Gesichtsfelds. Nightingale sprang auf und legte die wenigen Meter zurück, um ihn aufzuhalten, noch ehe jemand anders sich auch nur umgedreht hatte. Sie sprang ihn an wie ein Rugbyspieler, packte seine Beine und brachte ihn durch den Schwung ihrer Bewegung zu Fall. Der lange schwarze Gegenstand, den er in Octavias Richtung gehalten hatte, schlitterte über den Marmorboden und blieb vor der Bühne liegen.
Schreie ertönten ringsum, und sie spürte die Vibrationen von Füßen, die sich vom Boden in ihren Körper fortpflanzten, während sie mit dem ganzen Gewicht auf ihm lag. Sie packte die Arme des Mannes, drehte sie ihm auf den Rücken und verlagerte ihr ganzes Gewicht auf das Knie, das sie zwischen seine Schulterblätter stemmte. Sosehr sie sich auch bemühte, in den endlosen
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