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Requiem: Roman (German Edition)

Requiem: Roman (German Edition)

Titel: Requiem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eoin McNamee
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vermittelte den Eindruck, dass Dinge, die sich jenseits der Mauern der Wache abspielten, rasch auf ein unabänderliches Ergebnis zusteuerten.
    McCrink ging durch den Korridor an den Zeugen vorbei. Es war von Bedeutung, dass das Prozedere zermürbend war. Die Zeugen mussten verschiedene Stadien durchlaufen. Prüfung auf Tauglichkeit und Bußfertigkeit. Nach abgenommener Beichte würde man sie in die Dunkelheit entlassen. Er öffnete die Tür zum Verhörraum, drehte sich unter der Tür um und gab ein Zeichen. Ein junger Mann erhob sich unsicher. Tritt ein, dachte McCrink, offenbare uns deine Wallfahrerseele.
    Die Vernehmungsräume befanden sich nicht umsonst im Untergeschoss von Corry Square. Der Zeuge sollte das Gewicht des Gebäudes fühlen, das auf ihm lastete. Die Zimmer waren kahl, die Rohrleitungen freigelegt. In der Zimmermitte stand jeweils ein Tisch mit vier Stühlen. Damit will man die Zeugen einschüchtern, dachte McCrink. Sie sollten sich schuldig fühlen und Sünden bereuen, die sie noch gar nicht begangen hatten.
    »Wir holen den Hinterwäldler-Protestanten aus ihnen raus«, sagte Johnston. »Wir rütteln an den Blechdächern ihrer beschissenen Gospelhütten. Hier werden sie durch nichts abgelenkt. Reden ist das Einzige, was sie tun können. Sie werden uns Dinge erzählen, von denen sie noch nicht einmal wissen, dass sie sie wissen.«
    Erst zögerlich, bis in ihren Köpfen eine Geschichte Form annimmt. Sie fangen an, die Möglichkeiten des Erzählens zu erkennen, sehen, woraus ihr Leben zusammengesetzt ist. Wie sich die Dinge auf einen entscheidenden Moment zubewegt haben. Wie sie in einer Halle des Oranier-Ordens gelandet sind, dem dramatischen Gebäude, einem Sexualverbrechen bedrohlich und erregend nah. Sie versuchen, die Nacht Stück für Stück zusammenzusetzen und scheinbar bedeutungslose Details zu Teilen des Ganzen zu machen. Sie fangen an, darüber nachzugrübeln, wie die Dinge zusammenhängen. Sie sind dem, der sie verhört, dankbar, weil er ihnen hilft, die Struktur zu erkennen.
    Was geschehen ist, verändert sich, indem man darüber redet. Sie fangen an zu begreifen, dass alles bedeutungsschwer ist. Sie durchforsten ihre Erinnerung nach Details. Nach traumähnlichen Abläufen, nach Abschweifungen. Die Erzählung gerät ins Wanken.
    »Sie fangen an, Sachen zu erfinden«, sagte Speers. »Wenn sie sich nicht erinnern können, erfinden sie’s. Man darf ihnen nichts durchgehen lassen.«
    Sie fangen an, den Lebensweg des Opfers vor sich zu sehen, der auf das schauerliche Ende zusteuert. Jede Handlung schicksalsschwer.
    »Warten Sie nur, bis sie so richtig in Fahrt kommen«, sagte Johnston.
    »Sie denken, es hätte genauso gut mich treffen können«, sagte Speers, »der Killer hätte sich jede von ihnen aussuchen können.« Er lachte laut auf und zündete sich eine Gold Bond an. »Sie fragen sich, was an ihr so außergewöhnlich war.«
    »Darum geht’s nicht«, sagte McCrink. Die Zeugen wurden panisch, die Worte sprudelten nur so aus ihnen heraus. Sie hatten die Nähe des Todes im Saal gespürt, die Nähe eines Todeshelfers, eine zwielichtige kalte Gestalt, die für eine Weile unter ihnen gewesen sein muss.
    »Sie müssen alles erzählen, weil sie in Panik sind«, sagte McCrink. Sie suchten nach Worten, die sie schützten. Das Erzählen. Der Zauberbann einer Fabel.
    »Wenn’s nach mir ginge, kämen sie alle an den Galgen«, sagte Johnston, »ich würd sie hängen und dann den Rest Gott überlassen.«
    Johnston legte ein Telegramm vor McCrink auf den Tisch. Die Buchstaben schwarz von Tinte, die Abstände zwischen ihnen unregelmäßig. Kennedy. Heute Abend. 8.00. HQ.
    »Sieht ganz so aus, als würde der Chef Sie zu sich rufen«, sagte Speers.
    »Wir haben genug zu tun, Sir, machen Sie sich um uns keine Sorgen«, sagte Johnston, »ich bin immer mit irgendwas beschäftigt, Sir, ist doch so, nicht?«
    Beschäftigt womit, dachte McCrink.
    *
    McCrink fuhr mit dem Gefühl, Unheil hinter sich zurückzulassen, ins Hauptquartier der Royal Ulster Constabulary in Castlereagh am Rand von Belfast. Das Hauptquartier bestand aus niedrigen grauen Gebäuden mit Flachdach – Soviet-Aura. McCrink wurde durch düstere Korridore geführt und kam sich vor, als befände er sich in einem entlegenen Posten für Spione. Er stellte sich Agenten vor, die sich über Radarschirme beugten und nach anfliegenden Raketen Ausschau hielten, die auf parabolischen Flugbahnen über Sibirien hereinkamen.
    Kennedys Büro war ganz Leder

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