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Requiem: Roman (German Edition)

Requiem: Roman (German Edition)

Titel: Requiem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eoin McNamee
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konnte erkennen, wo rotes Färbemittel in die Haut eingedrungen war.
    »Sie waren am 28. Januar in der Henry Thompson Memorial Hall des Oranier-Ordens.«
    »War ich. Ich hab Robert McGladdery und Pearl Gamble gesehen. Ich hab mitbekommen, wie sie miteinander getanzt haben. Sie hat ihn auf die Folter gespannt.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Sie hat ihn gereizt. An der Nase herumgeführt.«
    »Gereizt?«
    »Hat ihn verrückt gemacht.« McCrink versuchte dem Mädchen in die Augen zu schauen, doch sie hielt den Kopf gesenkt und sprach eintönig.
    »Sie hat so lange eng mit ihm getanzt, bis sie ihm völlig den Kopf verdreht hatte. Dann hat sie ihn angeguckt und ihm ins Gesicht gelacht. Sie hat ihn weggestoßen. Verspottet. Sie hat’s nicht anders gewollt.«
    »Und was hat er gemacht?«
    »Ist ihr gefolgt, als sie zu ihren Freunden zurückging. Er hat ganz düster ausgesehen. Wie einer aus dem Kapitel über Vergeltung im Testament.«
    »Das erfinden Sie«, sagte Johnston, »Sie können das Opfer nicht leiden. Vielleicht haben Sie ein Auge auf McGladdery geworfen und dann gesehen, wie er mit ihr tanzte. Vielleicht sind Sie froh, dass sie tot ist.«
    »Ich hatte bei Gott nichts gegen sie. Ich hab Ihnen nichts als die Wahrheit erzählt, so, wie Sie wollten. Sie haben es selbst gehört. Was soll ich denn sonst tun? Der Tag vergeht so oder so. Da kann man doch genauso gut reden.«
    »Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
    »Nichts. Ich hab gehört, dass sie gestorben ist. In der Nacht gab’s Gerede von irgendeinem Blutbad. Ich bin am anderen Morgen aufgestanden und zur Arbeit in die Färberei. Ich hab mich vor den Farbtrögen hingekniet.«
    »Was hat er angehabt?«
    »Wie?«
    »McGladdery. Was hat er angehabt?«
    »Weiß ich nicht mehr.«
    »Und wenn Sie raten müssen?«
    »Hier geht es nicht darum zu raten.«
    Das Mädchen hob zum ersten Mal den Kopf. Die Dermatitis hatte auch die Haut um ihre Augen befallen, die Augen selbst waren rot entzündet, die Haut eine offene Wunde; sie blickte sie an wie durch eine Maske des Leidens. Der Wind wehte Hagelkörner gegen die Scheibe, und es wurde dunkel im Zimmer, während eine Sturmböe meeraufwärts trieb.
    Johnston ging um den Tisch herum und blieb vor ihr stehen. Sie schreckte zurück, als er sich wie ein Vollstrecker des Rechts aus dem Testament ihrer Jugend über sie beugte, ein Besucher mit der Vollmacht, sie vor Gericht zu bringen.
    »Lassen Sie mich«, sagte sie.
    »Er tut ihnen nichts«, sagte Speers.
    »Ich hätte niemals auf den Tanz gehen sollen«, sagte sie, »man hat es mir gesagt, aber ich hab nicht hingehört.«
    »Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte Speers, »wir wollen nur wissen, was Sie in jener Nacht gesehen haben.«
    »Was erlauben Sie sich, mit mir über Schuld zu reden?«
    »Was hat McGladdery getragen?«, fragte Johnston, »wie war er gekleidet? Trug er einen hellen Anzug?«
    »Ich hab nicht auf seine Kleidung geachtet«, sagte das Mädchen.
    »Sind Sie sicher? Noch vor einer Minute haben Sie sehr genau hingesehen.«
    »Das reicht«, sagte McCrink, »wir sind fertig mit Ihnen, Miss.«
    Das Mädchen eilte mit niedergeschlagenen Augen aus dem Zimmer, als sei sie befreit von einem furchtbaren Dienst, den sie ihnen erwiesen hatte. Johnston ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken und knöpfte seine Uniformjacke auf.
    »Ich komme mir vor, als hätte ich drei Stunden lang einem dieser Hölle-und-Schwefel-Kerle zugehört, wie er von der Kanzel herunterbellt«, sagte Speers.
    »Wenn sie wirklich so anständig lebt, was hat sie dann in einer Lasterhöhle verloren? Das Gleiche wie der Kerl davor.«
    »Denen gefällt es, in einem Heer von Ungläubigen die Stellung zu halten«, sagte Speers.
    »Was halten Sie von der Geschichte dieser schorfigen Schlampe?«, fragte Johnston, »ist das erste Mal, dass ich höre, Pearl habe McGladdery an der Nase herumgeführt.«
    »Wir könnten sie in den Zeugenstand rufen«, sagte McCrink.
    »Jedenfalls habe ich zum ersten Mal was gehört, das auf ein Motiv hindeuten könnte. Pearl hat McGladdery zurückgewiesen, und er hat sich gerächt.«
    »In der Art und Weise, wie er sie liegen ließ, finden sich mehr als genug Motive«, sagte Johnston, »was brauchen wir da noch mehr?«
    Am Abend kehrte McCrink mit den Abschriften der Vernehmungen vom Vortag ins Great Northern zurück. Im Ballsaal des Hotels wurde getanzt. Die Tanzenden sahen aus, als kämen sie aus Mitteleuropa, Männer mit dunklen Augen, Frauen in Reifröcken und Satin. Klänge

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