Requiem: Roman (German Edition)
waren Blut und Gewebe. Ihr Nacken war verletzt und verfärbt. Es gab sieben Stichwunden auf dem Oberkörper und im Nacken. McCrink fiel auf, dass die Einstiche klein und von regelmäßiger Form waren.
»Hat ihr auf jeden Fall keine Wahl gelassen«, sagte Speers. Geschlagen, gewürgt, erstochen. Die Augen des Mädchens standen offen. Sie lag auf der Seite, die Hände zwischen den Knien, eine nackte, geschlachtete Pietà.
Der Polizeifotograf hieß Mervyn Graham, ein Schuhmacher aus dem Ort. Graham hatte ein Händchen für alles. Er trug einen braunen, knielangen Mantel. Er sah aus wie ein Zuschauer, überrascht im Zustand der Empörung, eine zerknitterte Figur an dem Ort, wo es zuvor eine Schlägerei gegeben hatte. Er machte auch Fotos von Hochzeiten für den Newry Reporter. Steife Innenaufnahmen, die Braut und Bräutigam aussehen ließen wie die Mitglieder einer untergegangenen Bauernkaste, düster geworden durch das Gewicht ihrer vergessenen Welt.
Graham betrachtete die Leiche und zündete sich eine No. 6 an. Er kniete nieder, öffnete die Rückseite seiner schwarzen Hasselblad und machte sich daran, den Film einzulegen.
Graham fing an, Fotos zu schießen. McCrink hörte das Geräusch der Blende, das Schnappen des haarfeinen Spalts. Er konnte die Fotos vor sich sehen. Sachliche Kompositionen im Sucher. Die nackte, ungeschminkte Leiche fixiert in der Entwicklerflüssigkeit, silbern flackernd. Das Geräusch der Blende wie das Geräusch von Spielkarten, die gemischt wurden, als fände ein Glücksspiel statt. Falscher Glanz, der Szene hinzugefügt, um eine tödliche Posse daraus zu machen.
Als sie das Leichenschauhaus verließen, wurden sie von einem Aufseher aufgehalten.
»Minister West am Apparat für Inspector Speers«, sagte er, »er fragt nach dem neusten Stand der Ermittlungen.«
»Die kennen hier nur die Parole ›furchtlos und fair‹«, sagte Johnston, »aber beim Regieren hört’s auf mit der Fairness, und es ist einem eher zum Fürchten, finden Sie nicht, Sir?«
»Das Kommunistengeschwätz behalten Sie mal lieber für sich, Johnston. Sonst hält man Sie noch für einen Roten. Und wenn es etwas gibt, was die noch mehr hassen als einen Katholen, dann einen Kommunisten«, sagte Speers.
Zwei
I n den ersten vierundzwanzig Stunden nach dem Mord wurden alle registrierten Sexualstraftäter aus der Gegend zur Vernehmung gebracht. Exhibitionisten, Diebe, die Unterwäsche von Wäscheleinen stahlen. Einsame Männer mit eingefallenen Wangen. Johnston befragte sie.
»Beschissene Perverslinge, mehr nicht. Ich trau keinem Einzigen zu, das junge Ding umgelegt zu haben. Dazu hat von denen keiner das Zeug.«
McCrink parkte beim Gerichtsgebäude und ging an der Stonebridge vorbei zur Hill Street hinunter. Er lief an den Geschäftshäusern am Corry Square vorbei. Sugar Island. Buttercrane Quay. Plätze mit den Namen in Vergessenheit geratener Handwerkskunst, der Kanal verlandet, die Bahngleise verlassen. Graupelschauer wurden vom Meer her über das Marschland geweht, McCrink spürte in winterlichen Straßen den Toten nach. Fand sich in Hinterhofgassen und Chaos wieder. Tuberkulose, die Krankheit der Armen, grassierte weiterhin in der Stadt. Er ging durch Gassen, vorbei an Cottages mit nur einem Zimmer, die Frauen mit Kopftüchern. Er machte das immer so. Ging durch die Straßen, besuchte den Arbeitsplatz der Opfer und versuchte so, ihrer Lebensgeschichte auf die Spur zu kommen, der groben, kleinstädtischen Struktur, aus der sie gemacht waren.
Im Becken des Kanals waren zwei Kräne damit beschäftigt, Kohle von einem polnischen Küstenschiff in Frachträume umzuladen. Eine schwarze Staubwolke wogte übers Wasser. Die Kräne neigten sich abwechselnd ihrer Aufgabe zu, gelenkige Geschöpfe aus der Urzeit, als triebe sich das, wonach sie hungerten, im dunklen und dreckigen Rumpf des Frachtschiffes herum.
Verschüttete Kohle lag auf dem Dock. Kinder von Zigeunern sammelten das verstreute Heizmaterial in Säcken. McCrink stellte einen Fuß auf eines der bräunlichen Kohlestücke. Es zerbröckelte unter der Sohle.
»Der reinste Mist, mehr nicht.«
McCrink sah hoch. Einer der Dockarbeiter stand über ihm, eine Schaufel in der Hand. Das Gesicht des Mannes war schwarz vor Staub, gefurcht von Narben. Das Weiß seiner Augen stach aus dem Schwarz.
»Du bist also der Kerl, der hier ist, um für Pearl Gamble einen an den Galgen zu bringen«, sagte der Mann.
»Ich bringe niemanden an den Galgen.«
»Einer wird trotzdem
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