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Requiem

Requiem

Titel: Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kruse
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eines Uterus?), war eine völlig groteske Kulturtechnik. Der einzige Vorteil, soweit Beaufort das feststellen konnte, bestand in der Schnelligkeit des ganzen Vorgangs. Würden alle Männer überzeugte Sitzpinkler werden, wären die Schlangen vor den Toiletten in Konzert- oder Konferenzpausen bald ebenso lang wie bei den Frauen.
    Das Herren-WC befand sich gleich rechts neben dem Eingang, und Beaufort, der dem Druck kaum noch gewachsen war, stürzte regelrecht hinein. Da es völlig leer war und ein umständliches Kabineauswählen, Türabriegeln, Mantelablegen, Hoserunterziehen und Sichniederlassen wertvolle Sekunden gekostet hätte, stellte er sich, den Hosenschlitz schon im Gehen öffnend, an das nächstgelegene Urinal. In genau diesem Moment kam die Schulklasse herein. Etwa 15 Neuntklässler umlagerten sofort sämtliche Nasszellen und veranstalteten einen höllischen Radau. Sie grölten sich in breitem Pfälzisch – offenbar waren sie auf Klassenfahrt – pubertäre Sprüche zu, schubsten sich gegenseitig von den Pissoirs weg und ignorierten Beauforts Anwesenheit völlig. Umgekehrt gelang ihm das leider nicht. Obwohl ihm schier die Blase platzte, war da nichts zu machen. Also packte er notgedrungen wieder ein und zog den Reißverschluss hoch. Doch die Kabinen waren jetzt auch alle besetzt. Verzweifelt wusch er sich die Hände, denn hier galt es um so mehr, eine Vorbildfunktion zu wahren, und verließ das WC. Den Gedanken, die Damentoilette aufzusuchen, verwarf er sofort wieder, als er im Vorbeigehen das Gekreisch einer ganzen Kohorte Schülerinnen wahrnahm. In höchster Not bemerkte er den Direktionstrakt, ging am gerade abgelenkten Aufseher vorbei zügig hinein, fand am Ende des Ganges die Angestelltentoilette und nach kurzem Aufenthalt darin auch seine Souveränität wieder.
    An der Kasse kaufte Beaufort eine Eintrittskarte und bekam einen Audioguide ausgehändigt, der die Größe und das Gewicht eines Mobiltelefons der ersten Generation hatte. Während er die Treppen hochstieg, überlegte er, ob es kein deutsches Wort für dieses Gerät gab, doch ›Akustik-Führer‹ oder ›Hör-Führer‹ verwarf er gleich wieder. Das erschien ihm angesichts dieses Ortes doch etwas pietätlos.
    Das ganze Gelände, er hatte das zum Teil schon gewusst und erfuhr es jetzt in der Ausstellung wieder, hatte Adolf Hitler als Bühne für seine Partei gedient. Von den Parteitagen heutiger politischer Gruppierungen unterschieden sich die Reichsparteitage der Nationalsozialisten erheblich. Da wurde nicht innerparteilich diskutiert und über politische Programme abgestimmt; es waren reine Showveranstaltungen, die mit Massenaufmärschen, Militärübungen und Fackelzügen aller Welt die Macht und Stärke der Partei vor Augen führen sollten. Hunderttausende überzeugter Nationalsozialisten waren jeweils Anfang September aus dem ganzen Deutschen Reich hierher gekommen, denn gleich nach der Machtergreifung 1933 hatte Hitler Nürnberg zur Stadt der Reichsparteitage ernannt. Für eine einzige Woche im Jahr ließ er am südlichen Stadtrand ein riesiges Gelände erschließen und gigantische Bauwerke errichten, von denen aber nur die wenigsten bis zum Ausbruch des Krieges fertiggestellt worden waren. Für diese Kulissen der Gewalt, das waren neben dem Luitpoldhain im Wesentlichen Kongresshalle, Zeppelintribüne, Große Straße und Märzfeld, musste sogar der Nürnberger Tiergarten von hier nach Mögeldorf weichen. Der Freizeitcharakter eines Zoos hätte das Martialische der SA- und SS-Aufmärsche erheblich gestört.
    Beaufort wanderte durch unverputzte Räume, deren rote und gelbe Ziegelwände ganz bewusst den Rohbauzustand dieses Bauwerks zeigten. Er betrachtete große Schwarzweißfotos an den Wänden, ließ sich ab und zu von seinem Audioguide etwas erzählen, warf Blicke auf Wandtafeln, klickte sich durch ein virtuelles Fotoalbum und sah sich einen dokumentarischen Kurzfilm an. Historische Exponate wie in anderen Museen gab es nur wenige, und er begriff, dass das Gebäude selbst das wichtigste Ausstellungsstück war. Doch schon nach 20 Minuten war Beaufort so unkonzentriert, dass er seinen Rundgang abbrach. Er hatte nicht die Muße, sich jetzt auf diese interessanten Informationen zu fokussieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab, und die beeindruckenden Schwarzweißaufnahmen hier wurden von dem farbig realistischen Bild des Toten in der Ehrenhalle überlagert. Er würde seine Bildungslücken demnächst schließen. Jetzt aber ging er

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