Requiem
Tränensäcke waren leicht geschwollen. »Ich habe wirklich ganz schön an Fitness eingebüßt. Als ich dem Mörder hinterhergerannt bin, ist mir fast die Lunge geplatzt. Mit einer besseren Kondition hätte ich mir diese Gefangenschaft vielleicht ersparen können.«
Da stand Anne von ihrem Sessel auf und setzte sich zu ihm auf die Couch. »Du Armer«, sagte sie mit ihrer beruhigenden Altstimme und strich ihm übers Haar. Seine Schläfen fingen langsam an, grau zu werden, aber das stand ihm sehr gut, fand sie. »Das hängt dir ganz schön nach, was? Mit einmal drüber Schlafen ist so ein Erlebnis noch lange nicht verarbeitet. Ich bin selbst noch ganz durch den Wind nach dieser schrecklichen Nacht.« Es hatte lange gedauert, bis Anne und Frank eingeschlummert waren. Und auch dann hatten sie nur ein paar Stunden und ziemlich unruhig geschlafen, aber ihr sah man es dank des Make-ups kaum an.
Er zog sie an sich, und sie küssten sich sanft. Lange hielten sich die beiden eng umschlungen. Chets melancholisches Trompetenspiel mäanderte sich durch I wish you love .
»Weißt du, was mich umtreibt?«, fragte Beaufort leise. »Ich verstehe nicht wirklich, warum Karim die Neonazis und den Richter umgebracht hat. Warum ist gerade dieses Opfer zum Täter geworden? So viele andere, die schlimmstes Leid erfahren haben, werden es ja auch nicht.«
»Du wirst das Ei des Kolumbus nicht finden.« Anne streichelte seinen Brustkorb. »Bei Menschen gibt es kein einfaches Ursache-Wirkung-Prinzip. Das ist etwas für Romane. Das wirkliche Leben ist komplizierter. Seine wahren Beweggründe werden wir wohl niemals erfahren, vielleicht kannte er sie selbst nicht so genau.«
»Aber warum dieser mörderische Plan bei einem offensichtlich gläubigen Menschen?« Beaufort strich mit der Hand durch Annes Haar und ließ es zwischen seine gespreizten Finger fließen. »Es gibt Menschen, die erkaufen sich die Hölle mit so großer und schwerer Arbeit, dass sie sich mit der Hälfte den Himmel hätten erwerben können.«
»Auch wenn’s beunruhigend klingt: Diese Taten werden wohl immer etwas Unerklärliches haben.« Anne schob sich über Frank und küsste ihn zärtlich auf den Hals. »Wie soll dein Bewegungsprogramm denn so aussehen?«
Beaufort hob eine Augenbraue. »Oh, ich dachte da an Bogenschießen oder Schach.«
Anne richtete den Kopf auf und sah ihn mit ihrem gestrengen Ich-habs-doch-gewusst-Blick an.
»Nein, das war nur ein Scherz«, wiegelte er ab. »Ich habe mir überlegt, wieder mit dem Fechten anzufangen und ein bisschen zu joggen.« Er griff sich die Brigitte vom Couchtisch und blätterte darin. »Da steht es: Eine halbe Stunde Joggen verbrennt 340 Kalorien.«
»Sehr brav – der Vorsatz ist ja schon mal ganz rühmlich«, sagte Anne und schmiegte ihren Kopf in seine Halsbeuge.
»Du brauchst gar nicht so ironisch zu sein. Das ist mehr als nur eine Absicht.« Beaufort versuchte sich aufzurichten, doch Anne gab ihn nicht frei. »Was ist? Sollen wir beide eine Runde in den Pegnitzauen drehen? Jetzt gleich?«
»Oh nein, du bleibst hier bei mir«, sagte sie bestimmt und kuschelte sich eng an ihn. »Mit dem Laufen kannst du auch morgen anfangen. Und was die 340 Kalorien anbelangt«, gurrte sie zärtlich, »finden wir bestimmt noch andere Möglichkeiten.«
Nachwort
Dieser Roman ist ein Requiem, seine Struktur ist musikalisch geprägt. Er ist ein literarischer Widerhall auf Giuseppe Verdis Messa da Requiem . Die 15 Kapitel dieses Buches entsprechen den 15 Abschnitten von Verdis Totenmesse. Jedes Kapitel wird durch ein Zitat aus dem dazugehörigen Abschnitt eingeleitet und inhaltlich widergespiegelt. Beim Schreiben des Romans habe ich rund 30 verschiedene Versionen des Requiems gehört. Am häufigsten griff ich zu der Aufnahme mit Ferenc Fricsay und dem RIAS-Symphonieorchester Berlin von 1953. Hier wird mit einem Tempo und einem Furor gespielt, die nach meinem Dafürhalten unübertroffen sind. Der Zorn Gottes geht einem in diesen Dies-irae -Passagen durch Mark und Bein. Vielleicht konnte man mit derartiger Intensität nur im nachkriegszerstörten Berlin musizieren. Hier, in der durch die Schuld der Nazis untergegangenen Reichshauptstadt, lagen die Bilder und Erfahrungen der real erlebten Apokalypse gerade erst ein paar Jahre zurück. Mit ähnlichem Ingrimm im Dies irae und überirdischer Milde im Lux aeterna dirigierte 1964 Carlo Maria Giulini das britische Philharmonia Orchestra. Auch diese Aufnahme ist sehr empfehlenswert, zudem
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