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Requiem

Requiem

Titel: Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kruse
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kleinen Fisch in der Szene aus. Aber da muss ich mich noch schlauer machen.«
    »Und was hat das Ei zu bedeuten? Glaubst du, es ist Teil dieser Inszenierung?«
    »Keine Ahnung. Am liebsten wäre mir natürlich, der Täter hätte reingebissen und wir könnten aus dem Speichel einen genetischen Fingerabdruck gewinnen. Aber es ist ja heil. Vielleicht sind wenigstens ein paar Fingerabdrücke auf der Schale.«
    Ertl blieb unter einem der Rundbögen stehen und schaute kritisch in den verhangenen Himmel. Es regnete immer noch. Auf dem Platz befanden sich kaum noch Menschen, die Beamten in der Ehrenhalle waren aufgebrochen, auch die meisten Schaulustigen hatten sich davongemacht. Nur die beiden Polizisten wachten noch an der Absperrung.
    »Soll ich dich mitnehmen?«
    »Nein, danke. Ich gehe noch ein wenig spazieren. Ich muss die Eindrücke erst mal alle sacken lassen.«
    »Dann begleite mich mit deinem Schirm doch bitte wieder zu meinem Auto zurück.«
     
    *
     
    Beaufort winkte kurz dem davonfahrenden BMW hinterher und wandte sich dann nach Süden. Er war in einer merkwürdig ambivalenten Stimmung, gleichzeitig bedrückt und inspiriert durch diesen Todesfall. Warum musste der Mann sterben? Weil er Neonazi war? Konnte jemand deshalb einen solchen Hass auf ihn haben? Wie wurde er umgebracht? Und warum lag der Tote gerade hier auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände? Warum diese Inszenierung der Leiche? Er glaubte nicht, dass der Mann in der Ehrenhalle getötet worden war. Wahrscheinlich hatte der Mörder den Toten erst dorthin geschafft. Aber warum hatte er gerade diesen geschichtsbelasteten Ort gewählt? Beauforts kriminalistische Phantasie war entzündet. Solange er nichts über die Identität des Opfers und die genaueren Umstände des Verbrechens wusste, konnte er – wenn er schon mal da war – wenigstens versuchen, mehr über den Fundort herauszufinden. Denn obwohl er gebürtiger Nürnberger war, wusste er eigentlich viel zu wenig über dieses Gelände. Er war mit diesen halbfertigen Nazikulissen aufgewachsen, sie gehörten ebenso zu seiner Stadt wie die Burg, das Alte Rathaus oder der Hauptbahnhof. Natürlich war er vor ein paar Jahren zur Eröffnung des Dokumentationszentrums gekommen, und er hatte auch die alte Ausstellung in der Zeppelintribüne noch gekannt, aber besonders intensiv hatte er sich nie mit diesem Gelände auseinandergesetzt.
    Vor ihm ragte die überdimensionierte, niemals vollendete Kongresshalle auf. Kolosseum wurde sie von den Nürnbergern genannt, weil sie tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem römischen Bauwerk aufwies. Genau das hatten die Nazis mit diesem Architekturzitat auch beabsichtigt. Natürlich war ihr Kolosseum größer als das Original des einstigen Imperiums, ihr Weltreich sollte ja auch mindestens tausend Jahre halten. Man hätte das ganze Gebäude aber auch ebenso gut mit einem riesigen Hufeisen vergleichen können, dessen beide Enden jeweils von einem Rechteck inklusive Innenhof abgeschlossen wurden. In dem rechten dieser Kopfbauten war seit 2001 das Dokumentationszentrum unterbracht. Der neue Architekt hatte gewissermaßen einen riesigen begehbaren Stahlpfeil schräg durch das Gebäude geschossen, der die Macht des rechten Winkels aufhob. Beaufort gefiel diese Architektursprache – es war ein Angriff demokratischer Individualität auf faschistische Monumentalität. Doch im Moment hatte er weder Muße noch Lust, sich in derlei ästhetische Betrachtungen zu verlieren. Schon eilte er die Stahltreppe zum Eingang hinauf. Nicht etwa, weil er es nicht mehr erwarten konnte die Ausstellung zu besuchen; der Grund war viel profaner: Die Kombination aus Cappuccino und dem ständigen Plätschern des Regens tat ihre diuretische Wirkung – er brauchte dringend eine Toilette.
    Wenn es sich umgehen ließ, vermied er öffentliche Bedürfnisanstalten, Beaufort war da etwas heikel. Dieses gemeinsame, fast kumpelhafte Beisammenstehen mit wildfremden Menschen am Pissoir verursachte ihm Harnverhalten. Und mit Bekannten war es noch schlimmer. Er wollte nicht das Gemächt seines Finanzberaters anschauen müssen. Er wollte nicht das erleichterte Seufzen eines Vereinsmitglieds der Fränkischen Bibliophilen neben sich hören, wenn dessen Blase sich langsam leerte. Und er wollte auch nicht wissen, welcher der Honoratioren im Lionsclub sich danach die Hände wusch und welcher nicht. Nein, gemeinsam an der Wand aufgereihte Urinale zu benutzen (warum hatten die eigentlich fast alle die Form

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