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Requiem

Requiem

Titel: Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kruse
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unschlüssig und schaute gehetzt auf die Eindringlinge. Dann sah er zu Beaufort hinab, der ihn entsetzt anstarrte. Der flackernde Blick des anderen wurde ruhig und milde. Ein unerwartetes Lächeln trat auf seine Lippen. Kaum wahrnehmbar nickte er Beaufort zu, und wie zum geheimen Einverständnis schloss er dabei kurz seine Lider. Danach wandte er sich ruckartig um und blickte in ein halbes Dutzend auf ihn gerichteter Pistolenläufe. Schließlich stieß er ein irres Gebrüll aus und preschte mit gezücktem Messer auf einen der Beamten los.
    Zwei Schüsse peitschten nahezu gleichzeitig durch den Raum, und der Mann sank, von beiden Kugeln getroffen, zu Boden.
    Einer der Polizisten der SEG war sofort bei Beaufort. »Sind Sie verletzt?«, fragte er besorgt.
    »Nein, so weit ist alles in Ordnung«, stammelte er.
    »Nur einen kleinen Augenblick, dann sind Sie frei.«
    Der Mann löste die Fesseln und half ihm, sich aufzusetzen. Für einen Moment wurde ihm schwindelig, und er musste sich bei dem Beamten anlehnen.
    »Ganz tief durchatmen«, ertönte dessen Anweisung. Er legte der zitternden Geisel eine Decke über die Schultern. Beaufort dankte, massierte sich die schmerzenden Hand- und Fußgelenke und sah auf seinen Widersacher hinunter. Der war in der Mitte des Raumes zusammengebrochen. Er lag auf dem Rücken in einer großen hellroten Blutlache. Zwei Polizisten knieten bei ihm und versuchten ihn wiederzubeleben. Doch es war aussichtslos, so dass sie schließlich aufgaben. Einer der beiden drückte ihm die weit aufgerissenen Augen zu. Der Reichsparteitagsmörder war tot. Die Kugeln mussten lebenswichtige Blutgefäße oder Organe in seiner Brust zerfetzt haben.
    »Wie fühlen Sie sich? Können Sie aufstehen?«
    Beaufort bewegte seine eingeschlafenen Füße und nickte. Er rutschte an den Rand der Kommode und ließ anfangs nur die Beine baumeln, damit wieder Blut in sie lief. Schließlich hakte der Polizist ihn unter. Er bekam Boden unter die Füße, taumelte noch ein wenig, doch dann stand er sicher.
    »Wollen Sie etwas trinken?«
    »Ganz im Gegenteil. Mir platzt gleich die Blase. Ich pinkle jetzt in diese Ecke da, ganz egal, ob Sie mir alle dabei zuschauen.«
    Nachdem Beaufort trotz der Betriebsamkeit um ihn herum die Wonnen des Wasserlassens genossen hatte, konnte er auch wieder neue Flüssigkeit in sich aufnehmen. Gierig trank er aus der Wasserflasche, die man ihm gereicht hatte.
    »Wie haben Sie mich gefunden?«, wollte er von dem Polizisten wissen, der nicht von seiner Seite wich. Beaufort begann wieder vor Kälte zu schlottern.
    »Das erfahren sie gleich. Jetzt kommen Sie erst mal raus aus diesem Kühlhaus. Der Hausmeister der Symphoniker hat den Aufenthaltsraum drüben eingeheizt. Heißer Tee wartet dort auch auf Sie. Können Sie allein gehen, oder soll ich Ihnen helfen?«
    Beaufort schüttelte den Kopf. »Danke, ich werde es schon schaffen.«
    Er wickelte sich fester in die Decke und ging langsam los. Bei dem Toten blieb er stehen und warf einen letzten Blick auf ihn. Das Gesicht des Geigers war grau und fahl, das Hemd war ihm hochgerutscht und zeigte seinen vernarbten Unterbauch. Neben dem Leichnam lag der blutbefleckte Rosenkranz, der ihm aus der Tasche gerutscht sein musste. So viel Leid für so viel Leid. »Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm«, murmelte Beaufort. Dann wandte er sich ab und verließ das Verlies.
    Der Beamte führte ihn an dicken Ziegelsteinmauern vorbei, durch lange, schlecht beleuchtete Gänge. Ab und zu begegnete ihnen ein Polizist, der sie weiterlotste. Schließlich ging es Treppenstufen hinab und durch einen großen, hohen Saal bis vor eine schwere Stahltür. Es war dieselbe Tür, durch die er die Kongresshalle – ja, wann eigentlich? – betreten hatte.
    »Können Sie mir sagen, wie spät es ist?«
    »Vier Uhr.«
    »Nachmittags?«
    »Nein, es ist vier Uhr nachts.«
    »Die Nacht von Freitag auf Samstag?«, fragte er ungläubig.
    Der Polizist lächelte. »Genau. Heute ist der vierte Mai.«
    »Dann war ich ja höchstens sieben Stunden gefangen. Mir kam es dreimal so lang vor.«
    »In völliger Finsternis verliert man leicht das Zeitgefühl. Warten Sie, ich mache Ihnen auf.«
    Er ging vor und öffnete die schwere Tür für Beaufort. Sie traten hinaus ins Freie. Tatsächlich herrschte noch immer dunkle Nacht, aber die Luft war milder geworden. Beaufort sah sich um. Im Wandelgang standen mehrere Zivil- und Streifenwagen, und eine Menge Uniformierter lief geschäftig umher.

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