Requiem
nicht gerechnet. Doch er erwiderte ihn nicht. Stumm ließ er einen Rosenkranz durch seine Finger gleiten. Eigentlich sah er gar nicht so gefährlich aus, fand Beaufort, sondern eher mitleiderregend. Und auf einmal hatte er eine Eingebung, wie er mit ihm sprechen musste.
»Sie Ärmster. Was müssen Sie nicht alles durchgemacht haben«, sagte er mitfühlend.
Der Mörder wich verblüfft zurück. »Sie haben Mitleid mit mir?«
»Wer so wie Sie das Recht in die eigene Hand nimmt, dem muss selbst schlimmes Unrecht geschehen sein«, legte Beaufort nach.
Der andere musterte ihn kopfschüttelnd. »Sie sind in meiner Gewalt. Sie haben mein Geheimnis entdeckt. Ich kann Sie töten.« Er machte eine nachdenkliche Pause. »Ich werde Sie töten, weil Sie den Plan gefährden. Und Sie machen sich Gedanken über mein Seelenheil?«
Er sprach mit einer ungewöhnlich heiseren Stimme. Sein Deutsch war perfekt, aber es hatte einen leichten Akzent. Der Mann war kein Muttersprachler, doch aus welchem Land er kam, konnte Beaufort nicht erkennen.
»Natürlich. Wenn Sie mich schon in diese Lage bringen, möchte ich doch wissen, warum Sie das alles tun.«
»In diese Lage haben Sie sich selbst gebracht«, sagte der andere kalt. »Niemand hat Sie darum gebeten, hier herumzuschnüffeln.«
Beauforts Taktik schien aufzugehen – sie redeten. Und solange sie das taten, würde er ihm nichts antun, hoffte er.
»Ich kann Ihren Hass auf Neonazis ja verstehen. Ich habe selbst in letzter Zeit ein paar schmerzhafte Begegnungen mit dem Pack gehabt. Aber warum mussten all diese Toten sein?«
»Sie verstehen überhaupt nichts«, fauchte er ihn an. »Sie wissen gar nicht, wozu dieser Abschaum fähig ist. Und ganz bestimmt wissen Sie nicht, was Schmerzen sind.«
»Na ja, besonders gut fühle ich mich nicht gerade. Meine Arme und Beine sind ganz taub, und mein Rücken tut weh.«
Damit hatte er definitiv den falschen Ton angeschlagen. Der Mörder ging wütend auf ihn los.
»Sie glauben, dass Sie leiden, weil Sie mal ein wenig unbequem liegen müssen?«, schrie er ihn an. »Ich zeige Ihnen, was Leiden sind! Sie wollten doch wissen, was mir für ein Unrecht widerfahren ist.«
Und damit riss er sich das Hemd auf und entblößte seinen nackten Bauch. Der war über und über mit wulstigen Narben bedeckt, anscheinend verursacht durch üble Schnittwunden. Das Schlimmste aber war das golfballgroße Loch in seinem Unterleib. Es war eine offene Wunde. Ein Stück blutiges rosa Eingeweide. Das blinde Auge des Zyklopen. Beaufort sah direkt in einen künstlichen Darmausgang. Darüber war ein flacher durchsichtiger Plastikbeutel geklebt, in dem eine dicke dunkelbraune Flüssigkeit schwappte.
»Oh, mein Gott«, stammelte Beaufort, unfähig, den Kopf von dem Anblick abzuwenden.
»Und das ist noch nicht alles. Wollen Sie noch mehr sehen, ja? Ich zeige Ihnen alles!«
Seine Stimme überschlug sich fast. Er öffnete den Gürtel und zog sich Hose und Slip mit einem Ruck herunter. Auch sein Unterleib war voller gezackter, wulstiger Narben. Doch dort, wo Penis und Hoden sein sollten, war nichts. Nur ein kleiner roter Stumpf war zu sehen, von einer Hautfalte ummantelt. Jemand musste ihn kastriert haben. Beaufort wurde es speiübel.
»Gütiger Gott!« Er schloss die Augen.
»Oh, nein. Es gibt keinen gütigen Gott. Es gibt nur den gerechten Gott der Rache. Den, der am letzten aller Tage Rechenschaft fordert und vergilt: Auge um Auge, Zahn um Zahn.«
Der Mörder stand zornig da mit erhobener Faust, ein entmannter Racheengel mit heruntergelassenen Hosen. Und nichts an ihm wirkte lächerlich. Ein grauenvoller, ein grotesker, ein furchterregender Anblick. Dennoch fühlte Beaufort mehr Mitleid als Angst. Aber auch Widerspruchsgeist.
»Das ist der Gott des Alten Testaments. Doch dann kam Jesus und zeigte uns den Gott der Liebe und der Vergebung«, sagte er mit leiser, fester Stimme.
»Erzählen Sie mir nichts von Gott. Ich kenne ihn. Ich bin sein Werkzeug.«
Plötzlich schamhaft, als sei er sich erst jetzt seiner Nacktheit bewusst geworden, wandte er ihm den Rücken zu und zog sich wieder an. Dann ließ er sich nach diesem fanatischen Ausbruch erschöpft auf den Stuhl sinken, betrachtete seine Schuhspitzen und verfiel in Schweigen. Erst nach einer längeren Spanne brach Beaufort es.
»Wer hat Ihnen das angetan?«, fragte er teilnahmsvoll.
»Ich weiß es nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Es waren Skinheads. Ich habe sie nie zuvor gesehen, und auch danach nie wieder. Sie
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