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Requiem

Requiem

Titel: Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kruse
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Peiniger begegnen wollte. Sollte er ihn anschreien, ausschimpfen, drohen, ihn anbetteln, um Gnade flehen? Doch wenn er zu Kreuze kroch, würde das nur die Allmachtphantasien des Täters bedienen. Es war besser, keine Angst zu zeigen, er musste souverän wirken, kaltblütig. Am besten wäre es, den Mörder in ein Gespräch zu verwickeln. Irgendwie musste er ihn dazu bringen, ihm zuzuhören, mit ihm zu reden.
    Wer war der Mann? Und was trieb ihn zu diesen Gräueltaten? Er dürfte wohl Geiger oder Bratschist bei den Nürnberger Symphonikern sein. Das würde auch die Hornhaut auf den Fingern erklären, die der überfallene Gerstenberg bemerkt hatte. Beaufort hatte ihn immer nur kurz, am Rand seines Blickfeldes wahrgenommen, nie wirklich angesehen. Er erinnerte sich an den Mann mit dem Geigenkasten, der unter den Schaulustigen im Regen stand, als Anne und er die erste Leiche im Luitpoldhain betrachteten. Ewig weit schien das zurückzuliegen. Und auch an der Zeppelintribüne hatte er ihn vorbeigehen sehen, als er mit Rosenberg unterhalb des ermordeten Gessner stand – wieder mit dem Instrumentenkasten in der Hand. Woanders würde so jemand sofort auffallen, nicht aber hier auf dem Gelände, wo man häufig auf Musiker traf. Er erinnerte sich dunkel an einen kräftigen Mann mit schwarzem kurzgeschnittenem Haar. Als er die Requiem -Probe besucht hatte, war er bestimmt auch unter den Streichern gewesen. Aber Beaufort hatte ihn nicht beachtet. Ob der Mörder umgekehrt ihn erkannt hatte? Nicht mal vor der Stadiontoilette, als sie sich so nah wie noch nie gekommen waren, hatte es bei ihm klick gemacht. Das lag eindeutig am Fußballfanoutfit. Wäre der Mörder dort mit dem Geigenkasten in der Hand aufgetaucht, hätte Beaufort sich bestimmt an ihn erinnert. Offensichtlich verstand er es gut, sich einer Menge anzupassen und in ihr unsichtbar zu werden. Eine Fähigkeit, die ein Orchestermusiker vielleicht besonders gut beherrschte.
    Aber Beaufort verstand nicht, warum dieser Mann die vier Morde begangen hatte. Was hatte er mit den Neonazis zu schaffen? Warum dieser unbändige Hass auf Gessner und seine jungen Spießgesellen? Hatten sie noch etwas auf dem Kerbholz, was mit dem Überfall in Langwasser nichts zu tun hatte? Oder war der Musiker vielleicht Pakistani, der den Übergriff auf seine Landsleute brutal rächte? Denn um Rache und Selbstjustiz schien es sich hier ja wohl zu handeln. Und wenn Professor van Vlooten recht hatte, welches Trauma war dem Täter dann zugefügt worden? Hatte es die Gessner-Clique verursacht, oder lag es viel weiter zurück in der Vergangenheit? Beaufort stocherte im Nebel seiner Mutmaßungen und kam doch nicht weiter. Er grübelte und grübelte …
    Ein Geräusch ließ ihn aufschrecken. Er musste eingenickt sein, aber mit einem Schlag war er hellwach. Da! Ein Schlüsselbund klirrte, schrammte an etwas Metallisches. Jetzt drehte sich ein Schlüssel im Schloss! Die Tür wurde geöffnet! Beaufort spürte einen kalten Luftzug. Einen winzigen Moment lang hegte er die wahnwitzige Hoffnung, dass Anne kam, um ihn zu befreien. Dann schnitt ihm grelles Licht schmerzhaft in die Augen. Obwohl er sofort fest die Lider zukniff, war nur noch blendende Helligkeit um ihn. Ein heftiger Migräneschmerz bohrte sich in seine Stirn, und die an die Finsternis gewöhnten Augen begannen zu tränen. Er versuchte, sie nur einen Spalt weit zu öffnen, aber noch war es ihm zu grell. Seine Ohren dagegen funktionierten gut. Er hörte, wie jemand den Raum betrat. Dann fiel die Tür ins Schloss, es musste eine schwere Tür sein, wahrscheinlich eine Feuerschutztür aus Eisen. Die Person blieb nach ein paar Schritten im Raum stehen. Er spürte, wie sie ihn beobachtete. Keiner von beiden sagte ein Wort.
    Allmählich gewöhnten sich Beauforts Augen an das Licht, und er konnte durch seine Wimpern hindurch Dinge erkennen. Er sah eine rohe, graue Betondecke hoch über sich. Die Wände waren aus roten Ziegelsteinen gemauert. Der Raum war komplett fensterlos. Er war etwa acht mal zehn Meter groß und bis auf einen Stuhl, einen grauen Metallspind an der Wand und die schwere Eisenkommode, auf die er gefesselt war, leer. In der Mitte des Verlieses stand schweigend der Musiker und sah ihn unverwandt an. Er hatte schwarzes Haar, dicke Augenbrauen, dunkle Ringe um die Augen und einen Bartschatten auf seiner bleichen Haut.
    »Grüß Gott«, entfuhr es Beaufort automatisch.
    Der Mörder schaute irritiert, mit einem höflichen Gruß hatte er offenbar

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