Requiem
herrliche Momente, aber schreckliche Viertelstunden«, lachte Anne.
»Der alte Rossini hat aber auch Wagners moderne Musiksprache nicht verstanden. Und ein wenig Neid auf die Erfolge des Jüngeren dürfte da wohl auch mitgespielt haben«, erwiderte Frank.
»Sie kennen sich ja gut aus, Herr Beaufort. Wie gefällt Ihnen denn die Inszenierung bis jetzt?« Er nippte abwartend an seinem Weißwein.
»Anfangs war ich etwas irritiert, dass König Heinrich kein echtes Heer hat, sondern mit kleinen Plastikrittern spielt. Aber die Idee, zwischen dieser Spielzeugarmee mit einer kleinen Handkamera entlangzufahren und das auf eine Leinwand zu projizieren, hat mir gefallen.«
»Also mir war das ein bisschen zu viel Wagner-Kino«, entgegnete der Kritiker streitlustig. »Es gab ja nicht nur die Projektionen, sondern auch diese ganzen vorproduzierten Filmchen. Fast alles wurde bebildert. Da hatte der Regisseur wohl Angst, dass das Videoclip-gewöhnte Auge des Zuschauers sich sonst langweilen könnte.«
»Aber Sie wissen doch sicher, dass Wagner geschrieben hat: Kinder, macht Neues! Hängt ihr euch ans Alte, so hat euch der Teufel der Inproduktivität.« Auch Beaufort kannte die einschlägigen Zitate.
»Das stimmt. Aber das heißt noch nicht, dass alles Neue, was sich ein Regisseur ausdenkt, gut ist. Abgesehen davon, dass Videos in der Oper auch schon ein alter Hut sind. Mich stört besonders, dass die Sänger wegen der Filmchen gar nicht mehr spielen dürfen, sondern nur starr herumstehen. Stattdessen werden die Regieanweisungen des Librettos einfach nur eingeblendet. Das sorgt nicht gerade für Dynamik auf der Bühne.«
»Also mir hat besonders gut gefallen, dass Lohengrin zuerst als große Puppe aufgetreten ist«, schaltete Anne sich ein. »In ihrer blau-silbernen Schönheit sah sie doch genau so aus, wie Thomas Mann sich den Lohengrin, seine Lieblingsfigur aus Wagners Opern, immer vorgestellt hat.«
Die beiden Männer drehten ihre Köpfe gleichzeitig zu der Journalistin und schauten sie ungläubig an.
»Du hast Thomas Manns Leiden und Größe Richard Wagners gelesen?«, fragte Beaufort anerkennend.
»Und du kannst sogar aus diesem großartigen Essay zitieren?«, ergänzte der Kritiker mit Hochachtung.
»Ihr irrt euch. Das berühmte Zitat von der blau-silbernen Schönheit Lohengrins stammt nicht aus dem Essay von 1933, sondern aus einem Brief an Emil Preetorius aus dem Jahr 1949. Und wenn ihr mal einen Blick ins Programmheft geworfen hättet, anstatt hier so gescheit daherzureden, wüsstet ihr das auch.«
Annes Augen blitzten triumphierend. Ihr Kollege legte freundschaftlich seinen Arm um ihre Schulter und sagte schmunzelnd: »Sie ist schon ein echtes Cleverle, unsere Anne. Verdammt gut schaust du heute Abend wieder aus.«
»Es hat geläutet«, schaltete Beaufort sich ein, »der nächste Aufzug beginnt gleich.« Gemeinsam gingen sie in das Opernhaus zurück und trennten sich im Foyer.
»Mein lieber Schwan! Seit wann hat der denn so lange Haare? Der hält sich wohl selbst für einen Künstler.« Er half Anne aus ihrer Jacke.
»Wieso denn? Sieht doch gut aus. Du könntest dir dein Haar ruhig auch etwas länger wachsen lassen.« Anne suchte in ihrer Handtasche nach dem Lippenstift.
»Das werde ich ganz sicher nicht tun«, sagte Beaufort bestimmt, schob ihre Jacken über den Tresen zurück und steckte die Garderobenmarke ein.
*
In der zweiten Pause gingen Anne und Frank über eine breite Marmortreppe mit lindgrünem Läufer ins obere Foyer hinauf. Im kunstvoll gefliesten Gluck-Saal mit den dezenten grauen Tapetieren und den schweren Lüstern, die von der hohen Decke hingen, wimmelte es von gutgelaunten Premierenbesuchern. Er war an seinen beiden Enden von je einer Bar flankiert, und nachdem Beaufort an einer davon zwei Gläser Bitter Lemon erstanden hatte, unterhielten er und Anne sich flanierend über das Stück. Besonders das dunkle Paar Friedrich und Ortrud hatte es ihnen angetan. Anne war auch von dem Gasttenor begeistert. Beaufort mochte die Stimme ebenfalls, doch ging dem kleinen korpulenten Mann das Heldische in seiner Bühnenerscheinung völlig ab, fand er.
»Aber ist dir mal aufgefallen, wie oft in dieser Oper vom Deutschen Reich und von einem Führer die Rede ist?«, sagte Anne, »Und dann die vielen Heil-Rufe. Kein Wunder, dass Wagner Hitlers Lieblingskomponist war.«
Beaufort, der gerade sein Glas an den Mund gesetzt hatte, verschluckte sich heftig und verschwand hustend hinter einer Säule. Anne
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