Requiem
das beantworten könnte, wäre man in dem Fall ein großes Stück weiter. Denn Selbstjustiz ist das ganz bestimmt. Der Täter – und irgendetwas in mir weigert sich zu glauben, dass es sich um eine Frau handeln könnte – spielt sich als Richter auf. Schlimmer noch: als Herr über Leben und Tod.«
»Und er macht bei seinen Hinrichtungen durchaus Unterschiede«, warf Anne ein. »Gessner als geistiger Vater der Rassisten-Gruppe war wohl in den Augen des Mörders der Hauptschuldige. Er wird massiv gefoltert, bis er endlich sterben darf. Schmidt dagegen erhält eine für den Täter beinahe schonend durchgeführte Todesstrafe. Den schnellsten Tod hatte der junge Neonazi aus Baiersdorf, aber ich vermute, das lag gar nicht in der Absicht des Täters.«
»Du meinst, das war mehr so eine Art Betriebsunfall?«
»Ich glaube schon, dass er diesen Sebastian töten wollte, nur nicht so schnell. Vielleicht hat er die K.o.-Tropfen aus Mangel an Erfahrung zu hoch dosiert.«
»Na, da hat er ja tüchtig dazugelernt. Findest du nicht, dass der Mörder immer brutaler, selbstgerechter, ja wagemutiger wird? Die Leiche des Richters noch vor Mitternacht in den Schwan zu verfrachten, war doch extrem leichtsinnig von ihm. Vielleicht hat ihn jemand dabei beobachtet.« Ein Hund kam angeschossen, jagte einen Schwarm Enten ins Wasser und trippelte stolz zurück zu seinem Frauchen. Sie waren mittlerweile auf der Hundewiese angekommen.
»Das dürfte wohl auch die Hoffnung und Chance der Polizei sein, dass er sich selbst ein Bein stellt. Es wird ja auch immer schwieriger für ihn, an seine restlichen Opfer heranzukommen«, sagte Anne.
»Ich möchte wirklich wissen, was diesen Menschen zu seinen Taten antreibt. Ist das ein wahnsinniger Rächer? Oder ein kaltblütiger Sadist, der sich für allmächtig hält? Was hat er bloß erlebt, dass er sich auf diese grauenvolle Art zum Richter aufschwingt?«
»Vielleicht solltest du morgen mal auf die Burg gehen?«
»Was soll ich denn da? Der Täter wird wohl kaum mit Hellebarde oder Morgenstern zuschlagen.« Das Paar blieb auf der neuen Fußgänger- und Fahrradbrücke über die Pegnitz stehen und schaute hinab ins strudelnde Wasser.
»Auf der Kaiserburg beginnt morgen ein dreitägiges Symposium der Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg. Dort kommen Mediziner und Wissenschaftler aus ganz Europa zusammen, um sich über das Thema ›Trauma durch Krieg und Folter‹ zu informieren und auszutauschen. Das sind zwar keine Profiler, aber Spezialisten, die tief in die Abgründe der menschlichen Seele geblickt haben.«
»Was du wieder alles weißt.« Beaufort schüttelte anerkennend den Kopf. »Eine gute Idee. Da gehe ich gleich morgen früh hin.«
»Vielleicht wirst du da meine Lieblingskollegin Ina Pröls treffen«, sagte Anne mit bitter-ironischem Ton. »Die macht zu dem Thema für die Wissenschaft auf Bayern 2 eine längere Sendung, dabei hat sie davon ebenso wenig Ahnung wie ich. Aber sie hält sich auf sämtlichen Fachgebieten für kompetent, und irgendwie schafft sie es immer, den Redaktionen in München weiszumachen, dass sie das auch ist. Wenn Ina auch noch das Fernseh-Casting besteht, such’ ich mir einen neuen Arbeitgeber.«
Beaufort nahm Anne in den Arm und verzog den Mund zu einem halb spöttischen, halb besorgten Lächeln. »Beseeltes Gegeneinander ist viel anständiger als halbherziges Füreinander, sagt der Dichter Gerhard Falkner. Du solltest nur aufpassen, dass das nicht in einen Zickenkrieg ausartet. Denn das würde dir bestimmt schaden.«
»Ich passe schon auf«, erwiderte Anne leicht zerknirscht, »aber Ina ist so eine intrigante Schaumschlägerin.«
»So schlecht kann sie ja auch nicht sein, sonst hätte sie es bei euch nicht so weit gebracht. Und wenn du die Beste für den Fernsehjob bist, wirst du ihn auch kriegen. Wann entscheidet sich das genau?«
»Die Sitzung ist morgen Mittag. Da bin ich gerade draußen beim Club-Training. Ich mache den Vorbericht für das Heimspiel am Freitagabend.«
»Na, bitte. Das ist doch ein gutes Omen. Ich drücke dir die Daumen.«
»Du bist lieb«, sagte sie und küsste ihn.
»Was ist? Sollen wir nicht langsam mal umkehren? Es ist bald vier Uhr.«
»Jetzt schon?«
»Hast du vergessen, dass die Oper schon um sechs beginnt? Unter vier Stunden macht es Wagner ja selten. Und ich würde vorher gern noch mit dir Kaffee trinken und Frau Seidls Streuselkuchen probieren.«
*
Die roten Samtvorhänge schlossen sich am Ende des ersten Aufzugs,
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