Requiem
war es das Gesprächsthema Nummer eins. Ein riesiger Presserummel war losgebrochen. Fernsehreporter aus dem ganzen Land filmten auf dem Reichsparteitagsgelände und befragten Familien auf dem Volksfest und Messebesucher der heute eröffneten Bio-Fach nach ihrer persönlichen Angst vor dem grausamen Mörder, der hier doch jederzeit wieder zuschlagen könne. Selbst international erregten die Mordfälle Aufsehen. Anne und Frank hatten am Mittag im Bayerischen Fernsehen die Liveübertragung einer Pressekonferenz der Polizei verfolgt, bei der auch Journalisten aus Schweden, England und Italien Fragen gestellt hatten. Aus Platzmangel wegen des starken medialen Andrangs war die Presskonferenz vom Polizeipräsidium am Jakobsplatz in den Schwurgerichtssaal 600 des Justizgebäudes verlegt worden. Sie sahen nicht nur den Polizeipräsidenten und seinen Pressesprecher Stadlober auf dem Podium sitzen, sondern auch einen Staatssekretär aus dem bayerischen Innenministerium, einen Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft, den neuen Soko-Einsatzleiter namens Arnold und den Nürnberger Justizsprecher. Ekkehard Ertl hatte dunkle Ringe unter den Augen und machte den Eindruck, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Die neuen Ereignisse mussten ihn förmlich überrollt haben. Denn mittlerweile wurden die Ermittlungen vom Landeskriminalamt geleitet, die Sonderkommission war auf 80 Beamte aufgestockt, und etliche Spezialisten waren angefordert worden. Darunter ein Profiler und eine Kriminalpsychologin, die sich mit dem Täterprofil auseinandersetzen sollten, sowie zwei Experten für Extremismus und ein Historiker mit Forschungsschwerpunkt Nationalsozialismus.
Die bisherigen Ermittlungen hatten ergeben, dass Richter Karl Schmidt auf dem Weg zu seinem wöchentlichen Juristenstammtisch vor seinem Haus in Erlenstegen von dem Unbekannten überfallen, mit K.o.-Tropfen betäubt und gekidnappt worden war. Das war gestern Abend gegen acht Uhr geschehen. Der Tod war laut rechtsmedizinischem Gutachten etwa zwei Stunden später eingetreten. Der Richter war mit zwei gezielten Messerstichen ins Herz getötet worden. Danach waren der Leiche noch weitere Verletzungen mit einem Schraubenzieher und einem Messer zugefügt worden. Beaufort und Anne vermuteten, dass auch in die Brust des Richters eine SS-Rune eingeritzt war. Und wie bei den anderen beiden Ermordeten zuvor war der Fundort, in diesem Fall das Schwanen-Tretboot, nicht der Tatort gewesen.
»Hast du eine Ahnung, warum die das ekligste Detail, nämlich dass der Schraubenzieher im Auge des Richters steckte, bei ihrer Pressekonferenz ausgelassen haben?«, fragte Beaufort und wich einer Gruppe Freizeitradler aus. Einer hatte ein T-Shirt an, auf dem zwei Eier abgebildet waren. »Meinst du, die wollten die Mägen der Zuschauer schonen?«
»Das ist doch immer so, dass nicht alle Einzelheiten an die Öffentlichkeit gebracht werden. Es kommt immer wieder vor, dass sich Verdächtige beim Verhör verraten, weil sie Dinge erzählen, die nur der Täter wissen kann«, erwiderte Anne.
»In diesem Fall war es aber auch den Behörden bestimmt nicht recht, die Botschaft des Mörders zu verbreiten. Es liegt doch wohl auf der Hand, was er damit sagen will: Die Justiz ist auf dem rechten Auge blind.«
»Und ist sie das?«
»Du stellst Fragen. Willst du jetzt mit mir eine ethische Diskussion führen? Ich habe doch kaum Ahnung von der Materie.«
»Immerhin ist dein bester Freund Richter und Justizpressesprecher. Da wirst du wohl etwas mitbekommen haben.«
Beaufort dachte nach. Am Wasserrad spielten Kinder. Sie bauten kleine Dämme aus Steinen in dem Seitenbächlein der Pegnitz.
»Nein, die Justiz ist nicht blind auf dem rechten Auge. Das galt zu Kurt Tucholskys und Karl Kraus’ Zeiten, als Gerichte noch die Demokratie infrage stellten, aber heute nicht mehr. Sie ist oft schleppend langsam, umständlich, bürokratisch, konservativ, hierarchisch, manchmal sogar ungerecht, aber nicht blind. Letztendlich ist das Rechtssystem auch nur ein Spiegel unserer Gesellschaft.«
»Die Frage ist nur: Wenn unsere Judikative funktioniert, warum verübt dann jemand Selbstjustiz? Und dann auch noch auf diese brutale Art und Weise?« Anne verließ den asphaltierten Weg und zog Beaufort mit sich. Sie folgten dem Flusslauf über die Wiese, wo trotz der kalten Witterung einige Griller am Werk waren – die meisten von ihnen Türken, traditionell noch leidenschaftlichere Holzkohleentfacher als die Deutschen.
»Tja, wenn man
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