Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft Was uns stark macht gegen Stress, Depressionen und Burnout (German Edition)
verfehlte knapp seinen Kopf; sie durchbohrte nur seine Schulter.
Die Wunden an der Seele aber sind groß. Auch Monate nach dem Attentat ist Adrian Pracon noch krankgeschrieben. Er kämpft mit Depressionen. An jedem Ort, an dem er sich aufhält, sucht er panisch nach einem Schlupfloch. Da oben, diedrei Öffnungen in der Decke des Cafés, die könnten ihn retten, denkt er sich. Ohne solche Fluchtmöglichkeiten gehe es gar nicht. Auf Utøya, sagt Pracon, habe er schließlich keinen Ausweg finden können.
Vor allem eines aber beschäftigt ihn die ganze Zeit: Bei seiner ersten Begegnung mit Breivik, am Strand, da hat der Mörder ihn verschont. Dabei hatte er seine Waffen schon auf ihn gerichtet und sonst bei keinem Erwachsenen Gnade walten lassen. Wie eine Killermaschine legte er einen nach dem anderen um. Das Wasser färbte sich röter und röter. Aber als Adrian verzweifelt rief »Nicht schießen!«, da ließ Breivik sein Gewehr sinken und ging weiter.
Für fast alle Überlebenden eines großen Unglücks ist es unendlich schwierig, dass sie leben dürfen, während so viele andere starben. Für Pracon aber ist die Situation nahezu unerträglich: Ihn hat nicht irgendein Zufall, ihn haben nicht die Mächte des Schicksals verschont, sondern ein ihm widerwärtiger Serienkiller. Breivik hat entschieden, dass er leben darf.
Warum nur? Die Frage bohrt und bohrt in ihm. »Manchmal habe ich tagelang an nichts anderes denken können«, erzählt Adrian Pracon. Mochte Breivik ihn etwa? Das wäre für den jungen Sozialdemokraten eine der furchtbarsten Möglichkeiten.
Vier Monate nach dem Massaker von Utøya, im November 2011, wird Adrian Pracon in Oslo als Zeuge der Anklage gegen Anders Breivik vernommen. Abends greift er dann, aus dem Nichts heraus, einen Mann und eine Frau vor einer Bar an. Ohne dass sie ihn provoziert hätten, ohne erkennbaren Anlass schlägt er den Mann nieder und tritt ihm immer wieder gegen den Kopf.
Als Adrian Pracon zuschlägt, hat der Prozess gegen Anders Breivik noch nicht begonnen. Im Laufe dieses Prozesses wird der Massenmörder sagen, er habe Adrian verschont, weil dieser in seinen Augen »rechtsorientiert« aussah.
Wenige Tage bevor das Urteil gegen Breivik im August 2012 fällt, verurteilt ein Gericht auch Adrian Pracon: zu 180 Stunden Gemeinschaftsarbeit und einer Geldstrafe in Höhe von 10 000 Norwegischen Kronen (etwa 1400 Euro). Mildernd wird berücksichtigt, dass der junge Sozialdemokrat unter einerposttraumatischen Belastungsstörung leidet. Pracon selbst zeigt Reue. Er habe sich nach den schrecklichen Ereignissen von Utøya »von Neuem kennenlernen« müssen.
Der Schwerstbehinderte
Zu diesem Patienten traute sich der junge Arzt kaum ins Zimmer. Den Mann in all seinem Unglück daliegen zu sehen, das bereitete dem Arzt ein furchtbar beklemmendes Gefühl. Aber musste man sich so einem Menschen eigentlich nicht besonders lange widmen? Ihm zuhören? Mit ihm ein bisschen plaudern? Dieser Mann hatte doch nichts anderes mehr im Leben. Sein Schicksal musste kaum auszuhalten sein.
Vom zweiten Halswirbel abwärts war der Mann gelähmt. Das Einzige, was er noch bewegen konnte, waren die Muskeln an seinem Kopf. Er konnte sprechen und schlucken, er konnte die Stirn runzeln, mit den Augen zwinkern und mit den Ohren wackeln. Aber das war auch schon alles. Über den Rest seines Körpers hatte er keine Kontrolle mehr, seit er vor vielen Jahren bei einem Badeurlaub in Spanien einen Kopfsprung von einer Klippe gemacht hatte.
Nun lag er da und sah fern. Lag da und hörte Radio. Lag da und ließ sich füttern. Oder lag nur da.
So ging das seit Jahren. Normalerweise lebte der Mann, der noch keine 40 Jahre alt war, zu Hause bei seiner Familie. Lebte? Nicht einmal alleine essen konnte er, zum Trinken musste ihm jemand den Kopf anheben. Ein Buch zu lesen, ja das ging – wenn ihm jemand jede Seite umblätterte. Vor wenigen Wochen nun war er nur deshalb in das Münchner Universitätsklinikum Großhadern eingeliefert worden, weil ihn eine Lungenentzündung erwischt hatte. Doch jetzt war er schon wieder auf dem Weg der Besserung. Bald würde er nach Hause entlassen werden können.
Eines Morgens, kurz vor dieser Entlassung, ließ sich der junge Arzt doch auf ein Gespräch ein. Und er traute seinen Ohren nicht, als er hörte, was dieser Patient von sich zu erzählen hatte. Einen verzweifelten, hochdepressiven Menschen ohne Lebensmut hatte er erwartet. Dem die Decke auf den Kopf fällt,den die Sinnlosigkeit seines
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