Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft Was uns stark macht gegen Stress, Depressionen und Burnout (German Edition)
Mal in Freiheit war, war sie noch ein Schulkind. Acht Jahre lang befand sich Natascha Kampusch in der Gewalt ihres Entführers, hatte sein Haus nur wenige Male verlassen dürfen, wurde über lange Zeit in einem Fünf-Quadratmeter-Verlies im Keller eingesperrt und musste dem Mann zu Diensten sein. Manchmal sperrte er sie im Dunkeln ein und ließ sie hungern. Dann, im August 2006, nach 3096 Tagen in Gefangenschaft, gelang es ihr endlich zu fliehen.
Trotz dieses unfassbaren Schicksals war im Fernsehen eine starke und in sich ruhende junge Frau zu sehen, die über sich, ihr Verhältnis zu ihrem Peiniger und die Jahre ihres Martyriums auf ebenso kluge wie beeindruckende Weise nachdachte. Sie schmiedete nun, 14 Tage nach ihrer Flucht, bereits Pläne, was sie mit ihrer wiedererlangten Freiheit anfangen wolle. Nicht einmal die große Öffentlichkeit, die jeden Schritt dieser jungen Frau mit Staunen und mitunter auch mit Zweifeln verfolgte, schien sie nach den Jahren der Isolation zu stören. Natascha Kampusch sollte bald eine Talkshow im österreichischen Fernsehen moderieren.
»Sie hat mich sehr beeindruckt. Da saß eine sehr starke, kluge, kämpferische und redegewandte Person, die durchaus im Stande ist, über sich und ihre Erlebnisse reflektiert zu berichten«, sagte die Psychologin Daniela Hosser nach Kampuschs erstem Fernsehinterview. »Das war echt. Man hat ja auch gesehen, dass es ihr nicht leichtfiel, über manche Dinge zu reden.« Überraschend gefasst wirkte die 18-Jährige angesichts des Schreckens, den sie erlebt hat. Vermutlich sei diese Gefasstheit auch das Produkt langjährigen Nachdenkens über sich und ihre Situation, mutmaßte Hosser.
Viele Psychiater und Psychologen konnten das alles nicht glauben. Weshalb war die junge Frau nicht ein Schatten ihrer selbst? Woher nur hatte sie diesen Lebensmut – oder spielte sie allen nur etwas vor?
»Die Frau hat alle Fachleute verblüfft. Auch mich«, sagte der inzwischen verstorbene Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter wenige Wochen später. Zweifelsohne benahm sich Natascha Kampusch »ganz anders als viele traumatisierte Menschen«, so Richter. Er ärgerte sich darüber, dass manche seiner Kollegen die Glaubwürdigkeit der jungen Frau deshalb in Frage stellten und mutmaßten sie hätte das alles auswendig gelernt. Irgendwann wird sie zusammenbrechen, haben manche postuliert. Sie brauche nun eine langjährige psychologische Betreuung, haben andere gesagt. »Kann sein, dass sie sich das wünscht«, sagte Richter. »Muss aber nicht sein. Jedenfalls beweist sie, dass ihren Selbstheilungskräften viel zuzutrauen ist.«
Acht Jahre lang hatte über jedes Detail in Natascha Kampuschs Lebens ihr Entführer bestimmt. Er entschied, was sie aß, was sie anziehen durfte und wann abends das Licht ausging. Er gab ihr sogar einen neuen Vornamen, befahl ihr, wie viele Kilogramm sie zu wiegen und dass sie ihre Familie nicht mehr zu erwähnen habe. Wenn sie seine Befehle nicht befolgte, schlug er sie. Trotzdem weigerte sie sich hartnäckig, diesen Mann ihren »Gebieter« zu nennen oder ihn als »Maestro« anzureden, wie er es verlangte. Die Schläge und Tritte nahm sie in Kauf.
Er habe sich mit der Falschen angelegt, teilte sie später der Öffentlichkeit mit. »Er war nicht mein Gebieter. Ich war gleich stark.« So hat es Natascha eine Woche nach ihrer Flucht in einem offenen Brief geschrieben, den ihr Psychiater bei einer Pressekonferenz verlas. Schon damals sah sich der Arzt bemüßigt, zu betonen, dass diese Formulierungen von seinem Schützling selbst stammten. Der Täter sei auch erstaunt gewesen, erzählte Natascha dann im Interview. »Er hat sich gewundert, warum ich das alles so mit Fassung nehme.« Aber so sei sie eben: »Es bringt nichts, wenn man das Ganze zu emotional sieht. Ich bleib’ zum Trotz ich.«
Natascha Kampusch setzte dem äußeren Zwang ihrer Gefangenschaft offenbar eine eigene Freiheit entgegen. Sie zeigte, dass man »sogar in extremer Erniedrigung und Drangsalierung seine Selbstachtung bewahren« könne, wie Horst-Eberhard Richter sagte. Auch hatte sie einen zum Teil rührend anmutendenBlick fürs Positive: Sie sei sich dessen bewusst, dass sie keine normale Kindheit hatte, schrieb sie in ihrem offenen Brief. Doch habe sie nicht das Gefühl, dass ihr etwas entgangen sei. Unter diesen Umständen habe sie zumindest »nicht mit Rauchen und Trinken« begonnen und »keine schlechten Freunde« kennengelernt, meinte sie allen Ernstes.
Aber wie konnte sie
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