Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
hinauf.
Laut schlug eine Glocke.
»Kommt schon!«, rief jemand. »Diese Gondel fährt gleich ab.«
»Schnell!« Rollo zog sie hinein, obwohl sie zögerte. Die Türen schlossen sich, und alle drängten sich an die offenen Fenster, um hinauszusehen und aufgeregt in die Dunkelheit zu rufen.
Der Lärm war für Retra zu viel; sie wollte, dass alle still waren, doch sie konnte nichts weiter tun, als sich die Hände fest auf die Ohren zu pressen.
»Was ist?« Rollo versuchte ihre Hände wegzuziehen.
Sie schüttelte ihn ab und betete.
Schweigen ist meine Pflicht,
Ruhe mein Lohn.
Immer und immer wieder sagte sie das Mantra der Seals vor sich hin, als Schutz vor dem lauten Gejohle. Erst als die Gondel anhielt, öffnete sie die Augen.
Sie hingen neben einem erhöhten Bahnsteig, von dem Stufen in die Dunkelheit führten. Ein schmales Mädchen in einem langen Samtkleid, das so geschnitten war, dass man ihren Bauch und die üppige Rundung ihrer Brüste sah, trat aus den Schatten, als hätte sie nur darauf gewartet. Die Bänder ihres Mieders schleiften auf dem Boden. Wummernde Drums waren zu hören. Sie winkte ihnen und rief schrill: »Gefahrenzone, Babys. Wagt es ja nicht!«
Zwei Jungen, die lautesten von allen, sprangen aus den Gondelfenstern, übereinanderstolpernd und sich gegenseitig gegen den Arm boxend.
Das Mädchen lächelte sie auf eine Art an, dass sich Retras Herz zusammenzog. So als wäre es eine Jägerin, die sich über leichte Beute freut.
»Idioten«, stellte Rollo fest. »Zoner dürfen nirgendwo anders hin.«
Retra sah ihn verständnislos an.
»Hast du denn überhaupt nie das Konfetti gelesen?«
Sie schüttelte den Kopf, weil sie ihm nicht erklären wollte, wie ihr Vater sie dafür bestraft hätte.
»Zoner dürfen die Kirchen nicht benutzen. Deswegen können sie sich nicht ausruhen, niemals.« Er tat sein Bestes, um sich seine eigene Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.
»Was bedeutet das für sie?«, flüsterte sie und sah zu, wie sich die Schatten hinter ihnen schlossen, als die Gondel weiterrumpelte.
»Ich denke, das heißt, dass sie nicht so lange durchhalten werden.« Als er die Hand hochhielt, sah Retra ein kleines Tattoo in der Mitte seiner Handfläche. »Das Implantat, das sie uns bei der Aufnahme verpasst haben, senkt zwar das Schlafbedürfnis, aber manchmal müssen wir uns doch ausruhen. Zoner haben diese Möglichkeit nicht. Das ist die einzige Regel in ihrem Club. Brenne hell und verlösche – sehr schnell!«
Jetzt starrte ihn Retra mit großen Augen an. Langsam drehte sie ihre Hand herum. Ihr Tattoo sah anders aus als Rollos, blasser und nicht so fein gezeichnet, ganz so als wäre es nicht richtig aufgebracht worden. Hastig schloss sie die Hand zur Faust. »Das muss schrecklich sein. Warum sollte man dorthin wollen?«
»Keine Ahnung.« Er zuckte die Achseln. »An der Aufnahme sagte das Mädchen hinter mir, dort wäre alles besser. Intensiver. Aufregender.« Er ergriff Retras Hände und hob sie hoch, sodass sie zusammen schwankten, ebenso wie alle anderen in der Gondel. »Ich lasse es lieber ein bisschen langsamer angehen. Wir werden Spaß haben. Party!«
Retra riss ihre Hände herunter und wandte sich von ihm ab, um sich gegen den metallischen Fensterbeschlag zu drücken, während die Gondel sie immer höher hinauf in die Nacht trug.
Die schimmernden Lichterketten zogen ihren Blick magisch an. Sie konzentrierte sich darauf, um sich von dem rohen Mix aus Schlagzeug und Synthesizern abzulenken, der dumpf aus den Lautsprechern dröhnte.
Die Gondel schaukelte im Rhythmus der Kabel über ihnen und erbebte unter den trampelnden Füßen. Körper stießen gegen sie, so wie auch auf der Fähre schon. Sie umklammerte das kühle Metall des Fensters, bis ihr die Finger wehtaten, und betete, dass sie bald am Ziel wären.
Feuchte, warme Luft glitt über sie hinweg, als wollte sie sie wegen ihres schweren Mantels und der dicken Socken verspotten. Die anderen schälten sich aus ihren Kleidern wie Reptilien aus ihrer Haut. Mit den Füßen stampfend und schreiend ließen sie sie einfach zu Boden fallen.
Neben ihr riss sich Rollo den Mantel vom Leib und knöpfte sein Hemd auf. Darunter glänzte sein weißer, weicher Bauch. Der Anblick verursachte ihr Unwohlsein.
»Mach es wieder zu«, flüsterte sie. »Bitte.«
Doch er hörte sie nicht, sondern beugte sich näher zu einem Mädchen mit dichten Locken, um etwas zu ihr zu sagen. Nein. Um sie zu küssen . Retras Puls raste bei diesem Gedanken,
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