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Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne de Pierres
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losriss und kreuz und quer durch die schreiende, singende und in alle Richtungen drängende Menge rannte.
    Retra versuchte sich zu erinnern, was Test gesagt hatte. In Ixion gibt es sechs Kirchen auf geweihtem Boden, Vank, Illis, Vagios … dort könnt ihr gefahrlos ausruhen und wieder zu Kräften kommen .
    Nur bekleidet mit ihrer Unterwäsche stolperte sie die Treppe hinauf. Dort wartete eine sanft schwingende Gondel. Sie rannte in die erste Kabine und schlug gegen den Lautsprecher. »Bring mich zu einer Kirche!«
    Nichts geschah. Als Lärm vom Fuße der Treppe heraufdrang, fürchtete sie, die anderen könnten ihr gefolgt sein. Ein Name fiel ihr ein, den die Riper-Frau genannt hatte. »Vank. Bring mich nach Vank.« Ächzend setzte sich die Gondel in Bewegung und nahm immer mehr an Fahrt auf.
    Aus der Dunkelheit wehten Rufe zu ihr herüber: »Warte auf uns« und »Komm zurück«. Sie schreckte vor ihnen ebenso zurück wie vor den suchenden Fingern der Riper-Frau und drückte sich dabei in das harte Leder des Sitzes.
    »Es kommen noch andere.« Ein letzter Ruf verklang.
    Die Gondel trug sie höher und höher, klackerte durch eine Umsteigestation und bog dann auf eine Nebenstrecke ein.
    Retra spähte aus dem Fenster. Sie fragte sich, woran es lag, dass es hier niemals Tag wurde. Wenn Joel von Ixion gesprochen hatte, hatte sie nie richtig zugehört. Weil sie nie wirklich geglaubt hatte, dass er tatsächlich dorthin gehen würde. Grave Nord verlor jede Saison ein paar Jugendliche an die Verlockungen der dunklen Insel – aber nicht Seal Süd.
    Seals waren klug genug, nicht nach Vergnügungen zu streben.
    Die Gondel wurde langsamer und hielt schließlich an einer Station, an der ein Schild unter einer Flamme schwankte, die so schwach war, dass es schien, als werde sie sofort verlöschen, wenn die Kabine nur noch einmal hin und her rumpelte.
    »Vank. Nächste Abfahrt in zehn Glockenschlägen«, sagte die Lautsprecherstimme.
    Die Arme um den Oberkörper geschlungen trat sie auf den Bahnsteig. Am Fuße der langen Treppe sah sie eine weitere Fläche, eine Art Vorplatz vor einer riesigen steinernen Kirche.
    Als sie die Stufen hinunterging, bemerkte sie, dass sich der Platz zu beiden Seiten in der Dunkelheit verlor, die sie ebenso anzog wie ein Abgrund all jene, die unter Höhenangst leiden.
    Sie verließ die Treppe und schlich an eine Seite, um ins Dunkel zu spähen. Das Gefälle war steil und gefährlich. Aus der Dunkelheit unter ihr lösten sich Schemen, zunächst nur verschwommen, dann deutlich zu erkennen. Das Gesicht ihres Vaters, wutverzerrt, das über dem Körper eines blutnassen, glänzenden Dämons schwebte. Lange, scharfe Nägel schienen nach ihr zu greifen.
    Du hast uns Schande gemacht!
    Hastig steckte sie sich die Finger in den Mund, um nicht schreien zu müssen, rannte zu der verriegelten Tür und zog an der Glocke. Niemand antwortete. Zitternd und schluchzend hämmerte sie gegen die Tür.
    Endlich erschien ein Mädchen mit einer flackernden Kerze in der Hand.
    »Du bist zu früh. Willkommen in der Kirche von Vank. Nun aber still, kleine Fledermaus, weiche nie von den Wegen ab und ruhe zur rechten Zeit aus. Ich heiße Charlonge.«
    Retra verschränkte die Hände, als wolle sie beten. »Bitte … ich brauche Kleidung.«
    Stirnrunzelnd musterte Charlonge einen Augenblick lang die Unterwäsche, bevor sie den Arm um Retra legte. »Natürlich. Das tut ihr alle am Anfang. Komm.«
    Beim Betreten der Kirche hatte Retra nur einen flüchtigen Blick für die vom Kerzenlicht erleuchteten Miniaturstatuen in den marmornen Alkoven oder für die Vasen mit den mattschwarzen Blumen. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um einen Fuß vor den anderen zu setzen und Charlonges freundlichen Anweisungen zu folgen.
    »Dort hinter den Betbänken. So ist’s recht. Für unsere frischgebackenen Babyfledermäuse haben wir immer Betten. Bald kannst du dich ausruhen. Die Treppe hoch, Kleines.«
    Retra schreckte zurück und kauerte sich gegen die Balustrade.
    »Hast du Schmerzen?«, fragte Charlonge.
    »Nein«, hauchte Retra. »Aber i-ich bin fast nackt. So darf ich nicht von anderen gesehen werden.«
    Charlonges besorgte Miene wurde streng. Sie zog Retra auf die Füße und packte sie an den Schultern. »Ich sage es nur dieses eine Mal: Zeig niemals, dass du Angst hast oder dich schwach fühlst. An diesem Ort werden sie dich sonst verschlingen, das ist so sicher wie die Nacht.« Sie neigte das Gesicht näher zu ihr hin. Ihr Atem war süß, doch ihr Ton

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