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Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne de Pierres
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und das Unwohlsein wurde stärker.
    Rollo drückte die Lippen an den Hals des Mädchens und beachtete Retra gar nicht, bis die Gondel an einem weiteren schwach beleuchteten Bahnsteig hielt, auf dem sich schon zahlreiche Menschen drängten.
    Alle versuchten gleichzeitig rauszukommen. Retra stolperte und stieß sich das Knie an einer Stange. Als sie sich aufrichtete, fiel ihr Blick kurz auf Markes – dann war er wieder verschwunden.
    Rollo erschien neben ihr und packte ihre Hand. »Warum hast du nicht auf mich gewartet?«, fragte er.
    Sie sah ihn böse an. »Warum hast du das mit einer Fremden getan?«
    »Das ist keine Fremde. Ihr Name ist Keltha, und sie küsst wie der Teufel.« Er streckte die Zunge heraus und verdrehte sie auf obszöne Weise.
    Retra entzog ihm ihre Hand. Seine aufreizende, primitive Art kränkte sie.
    Als er ihre Abwehr bemerkte, wurde er für einen Augenblick ernst. »Mach dich locker, Retra. Du musst dich hier anpassen. Anders geht es nicht.«
    Sie starrte ihn an, unsicher, ob sie verstand, was er meinte. Dann drängte die Menge die Treppe hinunter und auf eine weitläufige beleuchtete Fläche.
    Retra zögerte. Von hier oben sah sie an einer Seite riesige Steinsäulen. Es schien, als wären sie aus dem Berg herausgemeißelt worden. Auf der gegenüberliegenden Seite markierte ein verschnörkelter schmiedeeiserner Zaun den Rand eines tiefen, dunklen Abgrunds. Zwischen dem Geländer und den Säulen, in der Mitte des Feldes, spuckten Feuerstrahlen in den Himmel und tauchten eine mit burgunderrotem Samt verkleidete Bühne in ein zuckendes Licht.
    Rollo zupfte wieder an ihr. »Komm, wenn wir hierbleiben, verstehen wir nichts.«
    Sie folgte ihm die Stufen hinunter. Wie durch ein Wunder war ihr Ärger auf ihn verraucht. Noch nie hatte sie so viele Menschen an einem einzigen Ort gesehen.
    Rollo bahnte ihnen mit den Ellbogen einen Weg durch die aufgeregte Menge. Sechs Gestalten standen reglos im Flackerlicht der Feuerstrahlen an verschiedenen Stellen auf der Bühne.
    »Ruhe.« Ein einzelnes Wort, das von der Person in der Mitte kam. Es hallte ungewöhnlich laut wider, zischend und unheimlich, und brachte die Menge zum Verstummen.
    »Ich heiße Lenoir und bin der Anführer der Wächter. Das ist vielleicht das einzige Mal, dass wir uns persönlich begegnen, deshalb hört gut zu. Sonst werdet ihr es später möglicherweise bereuen.«
    Er wartete und ließ seine Worte wirken.
    Retra stand stocksteif da, fasziniert von seinem Auftreten und Aussehen. Ein blasses, makelloses Gesicht, umrahmt von schwarz glänzendem Haar. Er war schön, auf eine Art, wie Retra sie nicht kannte.
    Gottlos.
    Ein Seal-Mantra drängte auf ihre Lippen, doch sie presste sie zusammen. Das würde ihr jetzt nicht helfen. Dies hier war nicht Grave. Sie musste zuhören und lernen oder … Gott . Wieder ein verbotener Gedanke. Er ist wie ein Gott.
    Aber was wusste sie schon von Gott? Was wusste sie über Männer?
    Und trotzdem kamen beim Anblick seines wallenden Haars und seines weltmännisch-spöttischen Lächelns Gefühle in ihr hoch, die ihr nicht recht waren.
    »Ihr gehört nun mir. Uns.« Er gestikulierte dramatisch nach rechts und nach links. »Dieser Ort ist unserer.«
    Es herrschte gespannte Stille, als alle die Luft anhielten.
    Lenoir lachte. Obwohl ihn die meisten nicht so gut sehen konnten wie sie, zog er sie allein mit der Stimme in seinen Bann.
    »Habt keine Angst. Alles, was wir wollen … ist euer Vergnügen«, sagte er.
    Jubel brach los, in dem sich die Anspannung entlud.
    Wieder brachte er sie zum Schweigen, indem er mit den Händen wedelte. »In Ixion haben wir nur einen einzigen Glauben, den an Musik und Party. Die Dunkelheit ist unser Element. Hier gelten bloß wenige Regeln, doch die sind unumstößlich. Euer endokrines System wurde durch Eingriffe im Hypothalamus so geändert, dass ihr keinen Schlaf und kein Sonnenlicht mehr braucht.«
    Noch mehr Gekicher und Gejohle. Doch dieses Mal klang es ein wenig überreizt und ängstlich, dachte Retra.
    »Trotzdem werdet ihr jeden zwölften Zyklus Ruhe brauchen, wie lange, das kommt auf jeden Einzelnen an. Wenn es an der Zeit ist, fängt der Chip, den ihr bei der Aufnahme bekommen habt, zu leuchten an. Wir nennen diese Ruhe petite nuit – kleine Nacht.« Er lachte. »Euer Körper braucht Erholung, doch euer Geist bleibt wach. Dann solltet ihr in euren Betten sein, meine Kleinen. Wenn nicht, geschieht es auf eigene Gefahr.«
    Das wurde mit Buhrufen und Pfiffen beantwortet.
    Retra

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