Rette mich vor dir
dazu nicht so eine aufwendige Prozedur benötigt. Ich habe kein Faible für Dramen«, sagt er. »Wenn ich jemanden verletzen will, brauche ich dafür nur meine eigenen zwei Hände.«
Ich bin wortlos vor Erstaunen.
»Ich wundere mich übrigens«, sagt Warner, »wie du solche Energiemengen in dir haben kannst, ohne sie irgendwo rauszulassen. Ich konnte sie kaum aushalten. Die Übertragung von meinem Körper in den von Kenji war gar nicht zu vermeiden. Ich konnte diese Kräfte nicht lange ertragen.«
»Und ich kann dich nicht verletzen?« Ich blinzle verwirrt. »Kein bisschen? Meine Kraft fließt einfach in dich? Du nimmst sie einfach so auf?«
Er nickt. Sagt: »Möchtest du es sehen?«
Und ich sage ja mit meinem Kopf und meinen Augen und meinen Lippen, obwohl ich furchtbare Angst habe. »Was muss ich tun?«, frage ich.
»Nichts«, sagt er leise. »Berühr mich einfach.«
Mein Herz hämmert pocht rast durch meinen Körper, und ich versuche mich zu konzentrieren. Versuche ruhig zu bleiben. Es wird schon gut gehen, sage ich mir. Es geht gut. Es ist nur ein Experiment. Du musst dich nicht so aufregen, nur weil du wieder jemanden berühren kannst, sage ich mir.
Aber oh, ich bin so wahnsinnig aufgeregt .
Warner streckt mir die entblößte Hand hin.
Ich ergreife sie.
Und warte, ob sich ein Schwächegefühl einstellt, das Gefühl, dass Energie aus mir schwindet, dass eine Übertragung in einen anderen Körper stattfindet, aber ich spüre nichts dergleichen. Ich fühle mich genau wie vorher. Doch ich beobachte Warner, der die Augen schließt, um sich zu konzentrieren. Dann packt er meine Hand fester und keucht.
Er reißt die Augen auf, und seine freie Hand dringt mühelos in den Boden ein.
Ich zucke entsetzt zurück. Kippe seitwärts, kann mich gerade noch auf meine wieder freien Hände aufstützen. Bestimmt bilde ich mir das ein. Bestimmt bilde ich mir das Loch im Boden ein, nur zehn Zentimeter von Warner entfernt. Ich hatte bestimmt eine Halluzination, als ich sah, wie seine Handfläche im Boden versank. Bestimmt ist das alles eine Halluzination. Ich träume und wache sicher bald auf. So muss es sein.
»Hab keine Angst –«
»W-wie«, stammle ich, »hast du d-das gemacht –«
»Keine Sorge, Süße, es ist alles gut, wirklich – für mich ist das auch neu –«
»Meine – meine Kraft? Hat dir nicht – du hast keine Schmerzen gehabt?«
Er schüttelt den Kopf. »Im Gegenteil. Fühlt sich an wie ein unglaublicher Adrenalinrausch – so etwas habe ich noch nie erlebt. Mir ist auch ein bisschen schwindlig«, sagt er, »aber auf eine gute Art.« Er lacht. Lächelt vor sich hin. Stützt den Kopf in die Hände. Schaut auf. »Können wir das noch mal machen?«
»Nein«, sage ich hastig.
Er grinst. »Ganz sicher?«
»Ich kann nicht – ich – ich meine, ich kann immer noch nicht fassen, dass du mich berühren kannst. Dass du – ich meine –«, ich schüttle den Kopf, »es gibt nicht doch einen Haken? Keine Bedingungen? Du berührst mich, und niemand nimmt Schaden? Und nicht nur das, sondern es fühlt sich auch noch gut an? Du magst das Gefühl, mich anzufassen?«
Warner blinzelt und starrt mich mit leerem Blick an, als wisse er keine Antwort auf meine Frage.
»Und?«
»Ja«, sagt er, aber es klingt atemlos.
»Ja was?«
In der Stille zwischen uns höre ich sogar sein Herz schlagen. »Ja«, wiederholt er. »Ich mag das Gefühl.«
Unmöglich.
»Du brauchst nie Scheu zu haben, mich anzufassen«, sagt er. »Es wird mir nicht weh tun. Es gibt mir Kraft.«
Ich möchte am liebsten eins dieser schrillen, hohen, irren Lachen von mir geben, das man von Menschen hört, die den Verstand verlieren. Weil diese Welt einen schrecklichen Humor hat. Immer scheint sie mich auszulachen. Amüsiert sich auf meine Kosten. Macht mein Leben dauernd noch komplizierter. Ruiniert meine ausgeklügeltsten Pläne, indem sie alles immer noch verwirrender werden lässt.
Ich kann den Jungen, den ich liebe, nicht berühren.
Aber ich kann meine Berührung nutzen, um den Jungen zu stärken, der meinen Liebsten töten wollte.
Niemand findet das komisch, würde ich der Welt gerne mitteilen.
»Warner«. Ich schaue abrupt auf, weil mir ein Gedanke kommt. »Du musst das Castle sagen.«
»Wieso denn?«
»Weil er es wissen muss! Es würde Kenjis Lage erklären und uns morgen helfen! Du wirst doch mit uns kämpfen, und da wäre das praktisch –«
Warner lacht.
Er lacht und lacht und lacht, und seine Augen glitzern, sogar in diesem
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