Rette mich vor dir
das erzählt?«
Stille.
»Kam heute früh einfach so hier hereinspaziert. Kam rein und sagte, er wolle sich mit mir unterhalten.« Warner lacht wieder, laut, zu laut. Schüttelt den Kopf. »Sagte mir, ich könne mich verändern. Sagte, ich hätte vielleicht eine Gabe wie alle anderen hier – eine besondere Fähigkeit . Sagte, ich könnte anders sein. Dass er glaubt, ich könnte anders sein, wenn ich es nur wollte .«
Castle.
Warner steht auf, dreht sich aber nicht vollständig um. Sein Oberkörper ist nackt, und es scheint ihn auch nicht zu stören, dass ich seinen vernarbten Rücken, das Wort ENTFLAMME sehen kann. Seine Haare sind zerzaust, fallen ihm ins Gesicht, seine Hose ist zwar geschlossen, aber nicht zugeknöpft. Ich habe ihn noch nie in so vernachlässigtem Zustand gesehen. Er stützt sich mit den Händen an die Steinwand, den Kopf gesenkt, als bete er, starrt ins Leere, und mir wird klar, dass er allmählich verrückt wird hier.
»Ist das zu fassen?«, fragt er. »Ist es zu glauben, dass er denkt, ich könnte eines Morgens aufwachen und so mir nichts, dir nichts anders sein? Fröhliche Liedchen trällern und Spenden an die Armen verteilen und die Welt anflehen, mir meine Taten zu vergeben? Hältst du das auch für möglich? Glaubst du, dass ich mich von Grund auf ändern kann?«
Jetzt dreht er sich zu mir um, und seine Augen lachen, glitzern wie Smaragde in der Abendsonne, und sein Mund zuckt, als er sich das Lächeln zu verkneifen versucht. »Meinst du, ich könnte vollkommen anders sein?« Er geht ein paar Schritte auf mich zu, und ich weiß nicht, weshalb ich nicht mehr atmen kann. Nicht mehr weiß, wo mein Mund ist.
»Das ist nur eine Frage«, sagt er, steht jetzt direkt vor mir, und ich weiß nicht einmal mehr, wie er dorthin gekommen ist. Er schaut mich an, die Augen so konzentriert und so beunruhigend, strahlend, erleuchtet von etwas, das ich nie deuten kann.
Mein Herz es hält nicht still es hüpft hüpft hüpft
»Sag es mir, Juliette. Ich würde zu gern wissen, was du über mich denkst.«
»Warum?« Ein ersticktes Flüstern, um Zeit zu schinden.
Warners Lippen zucken, weiten sich zu einem Lächeln, öffnen sich ein wenig, begleitet von einem seltsamen neugierigen Blick. Er antwortet nicht. Sagt kein Wort. Er tritt nur noch näher, betrachtet mein Gesicht, und ich kann mich nicht mehr rühren, mein Mund ist angefüllt mit all den Sekunden, in denen er nicht spricht, und ich kämpfe gegen alle Atome in meinem Körper, all die dummen Zellen in mir, weil sie sich so sehr zu ihm hingezogen fühlen.
Oh.
Gott.
Ich fühle mich so sehr zu ihm hingezogen .
Schuld wächst in mir heran, türmt sich auf, lastet auf meinen Knochen, sprengt mich entzwei. Sie ist ein Kabel, das mir die Kehle zuschnürt, eine Raupe, die mir über den Bauch kriecht. Sie ist Nacht und Mitternacht und Zwielicht der Gespaltenheit. Zu viele Geheimnisse, die ich nicht mehr bei mir behalten kann.
Ich kann nicht begreifen, warum ich das will .
Ich bin ein schrecklicher Mensch.
Und es ist, als könne er meine Gedanken sehen , die Veränderungen in meinem Kopf spüren, denn er wird plötzlich anders. Ruhiger, und seine Augen sind tief, sorgenvoll, zärtlich, seine Lippen empfindsam und weich, und es gibt zu wenig Luft in diesem Raum, und zu viel Blut flutet in meinen Kopf, überschwemmt jeglichen Rest von Vernunft.
Würde mir nur jemand erklären, wie man atmet.
»Weshalb kannst du meine Frage nicht beantworten?« Sein Blick dringt so tief in mich, dass ich beinahe in die Knie gehe, und plötzlich verstehe ich, in diesem Moment, dass alles an Warner ungeheuer intensiv ist. Nichts an ihm ist leicht zu handhaben oder einzuordnen. Er ist zu viel. Alles an ihm ist zu heftig. Seine Gefühle, sein Verhalten, seine Wut, seine Aggression.
Seine Liebe .
Er ist gefährlich, elektrisch, nicht zu erfassen. Sein Körper verströmt eine Energie, die so stark ist, dass man sie sogar dann fast noch greifen kann, wenn er relativ ruhig wirkt. Diese Energie führt ein Eigenleben.
Doch ich habe einen befremdlichen, beängstigenden Glauben an Warners wahres Wesen und sein Potential zur Veränderung entwickelt. Ich möchte den 19-jährigen Jungen wiederfinden, der einen streunenden Hund füttert. Ich will den Jungen verstehen, der eine entsetzliche Kindheit mit einem brutalen Vater durchlitten hat. Ich will diesen Jungen begreifen. Ich will ihn enthüllen.
Ich möchte glauben, dass er mehr ist als die Form, in die er gepresst
Weitere Kostenlose Bücher