retten die Pferde
wiederholen“, fuhr Mamsell fort, „am Nachmittag, allein. Damit ich sehe, was du wirklich kannst. Außerdem wirst du als Strafe für deinen Betrug zehn Seiten aus unserer Klassenlektüre übersetzen.“ Jenny nickte. Sie war wütend. Warum musste Mamsell ausgerechnet heute wieder ihr Rheuma haben, dachte sie. Jeder in Lindenhof wusste, dass Mamsell gute und schlechte
Tage hatte. Die Rheuma-Tage waren die allerschlechtesten. Sie konnte reizend sein - oder reizbar wie ein alter Bär. Da die guten Tage überwogen, liebten die Mädchen sie trotz ihrer häufigen Wutausbrüche und gelegentlichen Ungerechtigkeiten. Jenny wusste, dass die Strafarbeit keine Ungerechtigkeit war, aber sie ärgerte sich trotzdem darüber.
Marion hob die Hand.
„Von dir will ich nichts hören“, fauchte Mamsell. „Du hast Jenny nicht am Abschreiben gehindert. Ihr werdet alle beide am Samstag zu Hause bleiben. Der Ausgang ist gestrichen.“
„Darf ich trotzdem noch etwas sagen?“, beharrte Marion. „Ich wollte Sie bitten, dass ich die Strafübersetzung mit Jenny teilen darf. Ich bin genauso schuld wie sie. Ich selbst habe sie abschreiben lassen. Ich habe mein Heft so hingelegt, dass sie alles lesen konnte.“
Mamsell schwieg. Die Klasse hielt den Atem an. Auf einmal lächelte Mamsell. Ihr großes, breites, pferdezähniges Lächeln. Ein vergnügtes, freundliches Lächeln.
„In Ordnung. Natürlich wird Jenny die Übersetzung ebenfalls von dir abschreiben. Bring ihr wenigstens ein bisschen was bei, Marion. Den Subjonctif vor allem. Ihr bringt mich noch ins Grab, weil kaum eine von euch den Subjonctif beherrscht. Übrigens, das Ausgehverbot für Samstag hebe ich hiermit wieder auf. Du kannst dich bei Marion dafür bedanken, Jenny.“
„Ja, Mamsell“, murmelte Jenny. Sie schämte sich. Zumindest in Mamsells Unterricht würde sie nicht mehr abzuschreiben versuchen, nahm sie sich vor.
Marion hatte durch ihre Haltung eine Menge Pluspunkte gesammelt. Nicht nur bei Mamsell und Jenny, auch bei den anderen Mädchen. Man war ihr von Anfang an freundlich begegnet, denn alle hatten Mitleid mit ihr. Aber Mitleid genügt auf die Dauer nicht. Marion erwies sich als gute Freundin und bewies auch das, was man Zivilcourage nennt, eben Mut im Alltag.
Mit den Zwillingen verstand sie sich besonders gut.
„Das liegt daran, dass die Wellenlänge stimmt“, hatte Hanni einmal lachend gesagt.
Anja brachte Marion ganz besondere Zuneigung entgegen. In diesem Fall war es nicht die Wellenlänge. Anja, die auch vor dem Unglück eher künstlerischen als sportlichen Interessen nachgegangen war, und Marion, für die Leistungssport das Ein und Alles gewesen war, hatten wenig gemeinsame Interessen. Dafür verband sie eine echte Sympathie und das Wissen, dass sie beide mit Problemen zu kämpfen hatten, die den anderen fremd waren. Mit ihren Zimmergenossinnen vertrug sich Marion bestens. Außer Anja waren sie die Einzigen, die wussten, dass sie manchmal im Bett weinte. Am schlimmsten war es nach einem Fernsehfilm über junge Turnierreiter gewesen. Da hatte sie geheult wie der wohl bekannte Schlosshund. Die beiden Mädchen mussten ihr in die Hand versprechen „nie im Leben“ ein Wort darüber verlauten zu lassen. Sie hielten ihr Versprechen.
Max und Sternchen
Am Mittwochnachmittag gab es weder Sporttraining noch sonst ein Programm. Der Himmel war seidenblau, die Luft sanft wie Buttercreme. Der Wind war kein Wind, sondern eine angenehme leichte Brise.
Frau Martin saß auf der Terrasse und nähte Pailletten in allen Farben auf ein rosafarbenes T-Shirt. Mamsell sprühte vor guter Laune, vergaß, dass sie jemals Rheuma gehabt hatte, und erzählte einer Runde kleiner Mädchen aus der ersten Klasse haarsträubende Geschichten aus ihrer ach so harten Jugend.
Hanni und Nanni hockten auf der Brüstung und amüsierten sich.
„Wenn die Martina in dem Papageienhemd vor unserer Theobaldine erscheint, wird sie glatt gefeuert“, kicherte Nanni.
„Nein“, meinte Hanni. „Bevor die Theo sie feuern kann, bricht sie mit einem Herzanfall zusammen.“
„Nein“, warf Carlotta ein, die ebenfalls ihre Beine über das Steinmäuerchen schwang. „Bevor die Theobaldine her- zinfarktet niedersinkt, ist die Martina längst aus dem rosa Fetzen rausgeplatzt. Das Ding ist doch zwei Nummern zu klein für sie. Unser Martinchen hat wieder zugelegt. Und nicht zu knapp.“ Nachdem sie sich ausgelacht hatten, schlug Nanni vor in den Wald zu gehen. Sie brauchte ein paar Pflanzen für
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