Rettet den Euro!: Warum wir Deutschland und Europa neu erfinden müssen (German Edition)
Gegenteil dafür, dass die EZB an Ansehen gewinnen könnte, wenn sie wirklich einen Gegenspieler auf politischer Ebene hätte.
Ein zweiter Streitpunkt betrifft die Industriepolitik. In Frankreich nimmt der Staat traditionell Einfluss auf Unternehmen und sorgt dafür, dass französische Firmen im Wettbewerb nicht zurückbleiben. In Deutschland hat man sich dagegen jahrzehntelang gewehrt. Hier gilt, dass es Aufgabe des Staates ist, die Rahmenbedingungen in einer Marktwirtschaft zu setzen, und Aufgabe der Unternehmen, sich in diesem Rahmen und nach seinen Regeln zu bewegen. Die Wirtschaftsstruktur soll sich durch den Markt und nicht durch staatliche Interventionen ergeben. Der Markt weiß am besten, was gebraucht wird.
Wenn es nun eine europäische Wirtschaftsregierung gäbe, könnten die Franzosen geneigt sein, sie zu industriepolitischen Zwecken zu instrumentalisieren. Freilich muss man auch hier sagen: Die Franzosen könnten das nie allein durchsetzen. In einer europäischen Wirtschaftsregierung säßen auch Deutsche und Vertreter anderer Mitglieder, die den Franzosen Paroli bieten könnten, wenn sie wollten.
Es gibt auch – dritter Streitpunkt – die Sorge, eine europäische Wirtschaftsregierung führe zu einer Nivellierung der Wettbewerbsverhältnisse auf dem Niveau des Schwächsten. Die starken und die innovativen Kräfte, die auf den Weltmärkten erfolgreich sein könnten, würden am Ende auf der Strecke bleiben. Europa würde an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Die Gefahren der Nivellierung sind sicher gegeben, aber auch hier kommt es darauf an, wie eine Wirtschaftsregierung operiert. Es geht nicht um das »Ob«, sondern um das »Wie«.
Vierter Streitpunkt: Manche haben schließlich Angst, eine Wirtschaftsregierung würde zu sehr in die Verhältnisse auf Unternehmensebene eingreifen. Das gefährde die Marktwirtschaft. Der Staat würde zu stark. Der ehemalige deutsche Wirtschaftsminister Rainer Brüderle beispielsweise sah »eine Wirtschaftspolitik à la Colbert« als nicht erstrebenswert: »Wir wollen nicht Exporte in Brüssel genehmigen lassen.« (Brüderle 2011) Damit macht er es sich freilich zu leicht. Denn wenn es am besten ist, dass jeder in seiner nationalen Verantwortung agiert, dann fragt es sich, wieso die Ungleichgewichte in der Vergangenheit überhaupt aufgetreten sind.
Der Scorecard-Ansatz
Gesetzt den von heute aus gesehen noch fraglichen Fall, dass eine echte gemeinsame Wirtschaftsregierung etabliert werden soll: Wie geht man vor? Was hierzu derzeit am meisten diskutiert wird, ist der sogenannte »Scorecard«-Ansatz, den die EU-Kommission beziehungsweise die Rompuy Taskforce vorgeschlagen hat. Im Kern geht es dabei um die Bewertung der Wirtschaftspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten.
Eine Scorecard ist eine Punktetafel. Auf ihr wird festgehalten, wie gut oder wie schlecht ein Land im Hinblick auf verschiedene wirtschaftspolitische Kriterien abschneidet. Man schaut sich beispielsweise die Leistungsbilanz an und bewertet den Saldo. Hat ein Land ein hohes Defizit, dann bekommt es entsprechende Minuspunkte. Andere Kriterien können die private Verschuldung sein, die öffentliche Verschuldung, die Wettbewerbsfähigkeit gemessen am realen effektiven Wechselkurs oder aber auch der Anstieg der Immobilienpreise. Auf diese Weise kann man feststellen, wo Handlungsbedarf in den einzelnen Volkswirtschaften besteht und was man tun kann, um die Ungleichgewichte zu beseitigen.
Auf den ersten Blick erscheint dies ein vernünftiges Verfahren. Aber ist es das auch wirklich? Ich habe hier meine Zweifel. Man behandelt die Volkswirtschaften wie ein Auto: Wenn die Zündung nicht funktioniert, werden die Zündkerzen ausgetauscht. Wenn die Bremsen nicht mehr genügend ziehen, dann werden neue Bremsbeläge eingebaut. Eine Volkswirtschaft, die auf marktwirtschaftlichen Prinzipien basiert, ist jedoch kein Auto. Sie basiert auf dem Zusammenwirken von Millionen und Abermillionen einzelner wirtschaftlicher Akteure, die sich an Marktpreisen orientieren. Aus dem Zusammenwirken dieser Akteure ergibt sich dann das wirtschaftliche Gesamtergebnis. Wenn dieses Ergebnis nicht den Notwendigkeiten entspricht, dann stimmt etwas nicht mit dem marktwirtschaftlichen Koordinationsmechanismus. Es ist dieser Mechanismus, den man sich zuerst einmal anschauen und auf sein Funktionieren hin prüfen muss.
Im Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Koordinierung in einer Währungsunion muss daher zunächst die Ordnungspolitik
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