Rettungskreuzer Ikarus Band 030 - Held wider Willen
auszuweichen,
hatte er sich nun in eine Ecke des Scriptoriums zurückgezogen, doch den
Ereignissen konnte er nicht entkommen. Durch seine Entdeckung waren Ereignisse
in Gang gesetzt worden, die jetzt so dringend von allen besprochen werden mussten,
dass selbst das Scriptorium zu einem Ort der Beratung geworden war. Vielleicht
sogar gerade das Scriptorium, denn hier konnte man flüstern, ohne
damit auffällig zu sein, die Köpfe zusammen stecken, ohne dass es
verdächtig aussah. Zudem kamen die Fedayin, zumindest die des Priors Asiano,
nie hierher. Gerüchte sagten, diese Wachen würden die Heiligen Schriften
weder kennen noch schätzen. Ihr Glaube wäre an einen einzigen lebenden,
unter ihnen wandelnden Götzen gebunden.
Gerüchte, Gerüchte ... sie waren es, die das Gemurmel überall
belebten. Es gab so viele von ihnen, dass man den ganzen Tag mit ihrem Austausch
verbringen konnte. Mit einem leichten Anflug seiner alten, selbstironischen
Heiterkeit blickte Bruder Alfar auf sein Schreibpult. Das Blatt, auf das er
in seiner akribischen Schrift einen Psalm kopieren wollte, war nicht einmal
zu einem Drittel gefüllt. Er hatte kaum die Arbeit einer Stunde an einem
halben Tag geschafft, so sehr waren seine Gedanken zu seinem Erlebnis abgeschweift.
Und, wie er zugeben musste, zu den gewisperten Gesprächen seiner Brüder
und Schwestern.
»Prior Asiano ist bei dem Erzprior in Ungnade gefallen«, hörte
er die heisere Stimme von Schwester Tastea, die nahe im vermeintlichen Schutz
eines Regales mit zwei anderen zusammen stand. Die Arme hatte die Kunst des
Flüsterns nie beherrscht. Selbst wenn sie mitten in einer Predigt etwas
heimlich zu ihrem Sitznachbar sagen musste – und sei es nur, um ihn zu
bitten, ihr Gebetbuch aufzuheben –, hallte es stets deutlich vernehmbar
durch die ganze Kirche. Jetzt, in der Unruhe des Scriptoriums, war es aber trotzdem
wohl nur Bruder Alfar an seinem abseits stehenden Pult, der sie hören konnte.
»Sekretär Johannes, die Sünde der Neugierde möge ihm verziehen
sein!, hat sich vor den Räumen des Erzpriors aufgehalten, bis Prior Asiano
sie wieder verlassen hat. Er meinte, als der Prior hineinging, war er aufgebracht
– und als er herauskam, sei sein Gesicht wie Eis gewesen. Ganz kalt, fast
unmenschlich. Er sei durch die Gänge geschritten, als würde er jeden
töten, der sich ihm in den Weg stellt. Ganz sicher hat Erzprior Decorian
ihn ...«
»Einer seiner Leute hat den armen Jungen getötet«, wurde Tastea
zischend unterbrochen. Das war Bruder Priss, der Eiferer. »Weil er ihn
nicht gegrüßt hat. Demut! Pah. Mörder sind das, seine Sektenbande.
Ah, ich habe Dinge gehört. Exzesse, Ausschweifungen, Unzüchtigkeiten,
das ist es, was Prior Asiano betrieben hat, bevor er wieder hierher kam.«
Kein Wunder, dass Bruder Priss sich das gemerkt hatte. Ungebührliches Verhalten,
gerade im Bereich der natürlichen Triebe, fachte seinen Eifer an wie heißer
Wüstenwind einen Steppenbrand. Dabei vergaß der gute Bruder gelegentlich,
dass seine Art von Nachrede ebenfalls in den Katalog unangemessenen Verhaltens
fiel. Und doch, zum ersten Mal mochte das, was Bruder Priss sagte, tatsächlich
weitgehend der Wahrheit entsprechen.
»Die Frage ist doch, ob Prior Asiano von dem Mord gewusst hat, ob er ihn
billigte oder gar befahl. Oder ob er durch die übereifrige Tat seines Untergebenen
ebenso überrascht wurde wie wir alle«, mischte sich besonnen die Stimme
einer Frau ein, die Bruder Alfar zuerst nicht einordnen konnte, obwohl sie ihm
vertraut erschien. »Oder ob es eine ganz andere Wahrheit gibt. Weiß
man denn da nun etwas Genaues? Oder sind das alles nur Gerüchte?«
Ein kurzer Moment des Schweigens, in dem Bruder Alfar angestrengt lauschte.
»Nein, keiner weiß etwas, abgesehen natürlich vom Erzprior,
von Prior Asiano und dem Mörder selbst«, gab Schwester Tastea schließlich
zu und ihre Frustration darüber schwang in ihrer Stimme mit. »Ich
wünschte, Prior Sebald wäre hier, um die Nachforschungen zu leiten.
Ich bin mir sicher, er würde Licht in so manche dunkle Ecke dieser Geschichte
bringen.«
Prior Sebald! Das war ein Name, den man nicht mehr so häufig vernahm.
»Er wäre ebenfalls gerne hier, glaubt mir das, Schwester.« Das
war die dritte Stimme. »Nun, ich denke, der Mord wird bald aufgeklärt
sein, auch ohne seine Mithilfe.«
»Ja, aber wird das, was wir erfahren, auch der
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