Rettungskreuzer Ikarus Band 049 - Schritt vor dem Abgrund
Gestalten den Mann erspähte, auf den sie gewartet hatte. Er war größer als früher, natürlich. Captain Sagel war schon vor seiner Infektion hochgewachsen gewesen, allerdings eher gemütlich als sportlich, mit einem sehr wachen Geist, der die äußere Behaglichkeit Lügen gestraft hatte. War es jetzt genau umgekehrt?
Der Captain war gewachsen, musste weit mehr als zwei Meter groß sein, mit dem Körperbau eines professionellen Athleten. Da die Uniformen der infizierten Besatzungsmitglieder das Wachstum nicht mitgemacht hatten, sah Lovis3 mehr von der neuen Gestalt ihres ehemaligen Befehlsgebers, als sie eigentlich wollte.
Ihn und die anderen Männer und Frauen, die allesamt wirkten, als wären sie lebendig gewordene Marmorstatuen einer idealisierten antiken Epoche, störte es nicht im Mindesten, halb nackt herumzulaufen. Sie waren gelassen, entspannt, aber immer in Bewegung. Wie Raubtiere, die sich einstweilen mit ihrer Gefangenschaft abgefunden hatten, aber in Bereitschaft blieben, jede Fluchtmöglichkeit zu nutzen.
Sie kamen, soweit man das sagen konnte, erstaunlich gut miteinander aus. Obwohl sie auf engstem Raum zusammenleben mussten, schien es nie Streitereien zu geben, keinen Stress, keine Unstimmigkeiten. Vielleicht hatten sie es letztlich besser als alle auf der anderen Seite der Schutztür?
Lovis3 zuckte zurück, als Captain Sagel sie bemerkte. Er erkannte sie nicht mehr, das hatte sie bereits gelernt. Nicht dass er aggressiv oder auch nur unfreundlich ihr gegenüber war – gleichgültig, das traf es. Sie war ihm einfach unendlich gleichgültig.
Nachdem es ihnen gelungen war, die Infizierten zu isolieren – die meisten durch einen Trick, die restlichen durch das, was sie ›Einsammeln‹ genannt hatten und bei dem Fathia zum ersten Mal ihre Giftmischerkenntnisse eingesetzt hatte –, hatten die Infizierten natürlich versucht, einen Weg aus ihrer Zelle zu finden. Mit schlichter Gewalt ebenso wie mit subtileren Methoden, doch es war Lovis3 und ihren Leuten gelungen, ihnen gedanklich immer einen Schritt voraus zu sein. Alles, von der Belüftung bis zum kleinsten Wartungsschacht, war inzwischen gesichert und verstärkt, jede Tür, jede Luke. Es gab nichts, was man als Werkzeug oder Waffe verwenden konnte. Und die Besatzung stand unter ständiger Beobachtung. Selbst jetzt.
Captain Sagel verhielt so lange vor dem Sichtfenster, dass Lovis3 dieses verhasste Gefühl der Hoffnung in sich spürte. Sie begann, auf ein Zeichen zu warten, ein Erkennen, eine Spur seines früheren Lächelns. Aber natürlich gab es nichts dergleichen.
»Ich würde Sie jetzt so sehr brauchen, Sir«, murmelte Lovis3 zu sich selbst. »Wir stecken in der Klemme, es ist wirklich schlimm. Sie wüssten bestimmt einen Weg da raus.«
Andererseits wären sie gar nicht erst in diese Lage geraten, wenn der Captain und seine Leute nicht über das Virus den Verstand verloren hätten. Hatte sie all diese falschen Entscheidungen getroffen? War das alles jetzt ihre Schuld?
Ihre Arme wurden ihr lahm, aber schlimmer schmerzte der unendlich leere und gelassene Blick Sagels. Sie ließ sich fallen, achtete darauf, dass sie richtig im Rollstuhl saß. Die Bewegungen waren noch ungelenk und schwierig, aber sie begann, sich dran zu gewöhnen. Ohne die Schmerzmittel, die Fathia ihr gab, wäre sie noch nicht wieder auf den Beinen … Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. Unterwegs, sollte sie sagen. Ob sie je wieder auf den Beinen sein würde, musste die Zeit zeigen. Aber trotzdem hatte sie es noch gut getroffen. Wie ging es wohl den beiden Besatzungsmitgliedern des vermissten Beibootes?
Tief in Gedanken setzte sie ihren Weg zur Krankenstation fort. Es war sehr still in dem großen Raum, die Erinnerungen an Blut und Chaos, an zerschnittene Schutzanzüge und den Geruch verbrannten Fleisches hatten die Reinigungsroboter mit ihren Desinfektionsmitteln nicht ganz auslöschen können, sie aber in einen Bereich verbannt, der eher dem Traum als der Wirklichkeit zuzugehören schien. Die weißen, sauberen Flächen und die dezenten Signaltöne der Gerätschaften leugneten alle Schrecken, die in der Krankenstation direkt nach ihrer Rückkehr stattgefunden hatten.
Fathia wandte sich nicht zu ihr um, als Lovis3 in den Raum glitt, aber sie hatte den Besucher bemerkt. Wenn die Ärztin Gefühle hatte, blieben sie dem Rest der Welt auf immer verschlossen. Sie hatte keine Aufregung gezeigt, kein Entsetzen … und kein
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