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Rettungslos

Titel: Rettungslos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: van der Vlugt Simone
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was wird von ihr erwartet?
    Â»Mama …«, sagt die Mädchenstimme unsicher. »Mama, kannst du mich hören?«
    Mama? Sie ist also Mutter, hat eine Tochter. Und wahrscheinlich auch einen Sohn. Um Himmels willen, sie erinnert sich überhaupt nicht daran! Wie soll das nur werden, wenn sie aufwacht? Und was, wenn sie gar nicht mehr aufwacht, für immer in dieser Leere umhertreiben muss?
    Grenzenlose Panik erfasst sie.
    Â»Wenn du mich hörst, drückst du meine Hand, ja? Nur ganz leicht, das reicht schon.«
    Â»Ja!«, ruft sie ihrer Tochter zu. »Ich hör dich! Ich hör dich!«
    Das Mädchen verschränkt die Finger mit den ihren.
    Sie drückt so fest, dass ihre Tochter blaue Flecken bekommen muss. Gespannt wartet sie auf eine Reaktion.
    Neben ihr bleibt es still, nur die leisen Atemzüge des Mädchens sind zu hören.
    Â»Dein Finger zittert ein bisschen«, kommt es zögernd.

    Â»Senta!?« Die Männerstimme, dicht an ihrem Ohr.
    Jetzt zittert ihr Finger keinesfalls mehr, denn sie liegt stocksteif da, völlig perplex vor Staunen.
    Senta!
    Als wäre ein Bühnenvorhang zur Seite gezogen worden, eröffnet sich ihr beim Klang dieses Namens ein Blick in ihr Gedächtnis. In ihrem Kopf macht es »Klick«, das Gehirn beginnt auf Hochtouren zu arbeiten. Erinnerungsfetzen tauchen auf, und sie versucht, sie wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Sie heißt Senta, ist dreiundvierzig Jahre alt, mit Freek verheiratet und Mutter dreier Kinder. Heute Morgen, das heißt, falls nicht schon mehr Zeit vergangen ist, ist sie früh aus dem Haus gegangen, um rechtzeitig in Gelderland zu sein. Sie ist Journalistin und hatte einen Termin in Oss. Stück für Stück fügen sich die einzelnen Teile zu einem Bild zusammen, und eine warme Welle der Erleichterung durchflutet sie. Wenn sie ihr Gedächtnis wiedererlangt, wird bestimmt auch bald alles andere funktionieren!
    Sie grübelt, versucht sich zu erinnern, was auf dem Rückweg passiert ist. Als Erstes fällt ihr der Nebel ein. Dieser tückische, schnell aufziehende Nebel, der plötzlich um die Motorhaube waberte und ihr die Sicht nahm. Hatte sie einen Unfall mit einem entgegenkommenden Fahrzeug? Sie weiß es nicht mehr. Nur eine Kreuzung sieht sie vor sich, an der sie versuchte, die Schilder zu lesen. Mit einem Mal taucht vor ihrem inneren Auge ein Feldweg auf, auf dem sie fluchend und schwitzend von Schlagloch zu Schlagloch fuhr.
    Weiterdenken, es kommt alles wieder … wenn sie sich nur genügend anstrengt.

    Aber es kommt nichts. Der Nebel, die Kreuzung und der Feldweg, mehr gibt ihr Gedächtnis nicht preis.
    Dann eben ihre Familie … die Namen der Kinder. Es kann doch nicht sein, dass sie als Mutter die Namen der eigenen Kinder nicht mehr weiß?!
    Die Stimme des Mädchens hat starke Gefühle ausgelöst, die sich nur als Mutterliebe interpretieren lassen. Auch wenn sie sich nicht an ihre Tochter erinnert, der Klang ihrer Stimme geht ihr zu Herzen. Ein hübscher, unsicherer, manchmal wohl auch aufsässiger Teenager.
    Denise!
    Völlig unverhofft und ohne jegliche Anstrengung weiß sie auf einmal die Namen ihrer Kinder wieder: Denise, Jelmer und Niels.
    Gleichzeitig empfindet sie tiefe Einsamkeit und den brennenden Wunsch, in die Welt zurückzukehren, in der sie zu Hause ist.
    Verzweifelt hebt sie den Blick zur Oberfläche, die sich wie eine zähe Haut über ihr spannt. Dort oben wartet das Leben auf sie, ein erfülltes Leben voller Perspektiven. Sie muss aufwachen, aufwachen, aufwachen!

11
    Tomatensauce. Kräuter. Spaghetti. Knoblauch und Zwiebeln. Alles steht vor Lisa auf der Arbeitsplatte, wie an einem ganz gewöhnlichen Montag. Für heute war gutes Wetter vorhergesagt, ein sonniger Spätsommertag sollte es werden. Dieses Jahr ist der September warm, fast schon schwül. Während sich das Laub der ersten Bäume verfärbt und Spinnen in den Fensterrahmen ihre hauchzarten Netze weben, brennt die Sonne vom Himmel, als wäre es nicht schon längst Zeit für einen allmählichen Rückzug. Der Nebel am Nachmittag kam völlig unerwartet auf. Inzwischen hat er sich verzogen, aber draußen ist es noch ein wenig trüb.
    Lisa bemüht sich, den Verband zu ignorieren, den sie vorhin gewechselt hat. Beim Anblick der Verletzung ist sie erschrocken: eine tiefe Fleischwunde mit hässlichen dunklen Rändern. Aber das muss nichts Schlimmes bedeuten.

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