Rettungslos
bestanden, dass er weiterläuft â und das leise Kratzen der Gabeln auf den Spaghettitellern. Anouk wirkt ein wenig munterer, das Fieber ist gesunken, und es scheint ihr zu schmecken.
Noch ist es hell drauÃen, stellt Lisa fest, aber nicht mehr lange. Jeden Tag bricht die Dunkelheit ein wenig früher herein. Vor zwei, drei Wochen konnten sie noch im Freien zu Abend essen, und danach saà sie oft eine Zeit lang mit einem Glas Wein auf der Terrasse und genoss die Abendsonne. Jetzt geht das nicht mehr, trotz des tagsüber sommerlichen Wetters. Auch gestern war es herrlich warm, sie hat in Shorts und T-Shirt ein paar Stunden im Garten gearbeitet.
Ãber Kreugers Schulter hinweg fällt ihr Blick auf die noch immer üppigen Rabatten mit schon leicht verblichenen Hortensien, rosarotem Phlox, Stockrosen und Salbei. All das hat sie nach ihrem Einzug eigenhändig angepflanzt, sie hegt und pflegt ihre Beete und freut sich jedes Jahr aufs Neue an ihrer Schönheit. Sie mag den September, vor allem, wenn es solch ein goldener Spätsommer ist. Unwillkürlich fragt sie sich, ob es wohl ihr letzter sein wird.
Auf Kreugers Zusage, ihnen würde nichts geschehen, falls sie keine Schwierigkeiten machen, darf sie nicht allzu viel geben. Es wäre mehr als naiv, sich auf das Wort eines psychisch gestörten Verbrechers zu verlassen. Momentan wirkt er ruhig und ungefährlich; sie muss versuchen, ihn in dieser Stimmung zu halten.
Insgeheim hofft sie noch immer auf die Polizei, auch wenn sie mittlerweile stark daran zweifelt. So lange
kann es doch nicht dauern, bis die Meldung der Frau aufgenommen und überprüft wurde. Selbst, wenn man sie nicht ganz ernst genommen hätte, wäre doch mittlerweile zumindest eine Streife bei ihr aufgetaucht, um routinemäÃig nach dem Rechten zu sehen.
Also liegt der Schluss nahe, dass die Frau gar nicht bei der Polizei war. Womöglich hat sie Kreuger überhaupt nicht gesehen, und falls doch, hat sie die Situation bestimmt falsch eingeschätzt.
Kreuger nimmt sich eine zweite Portion und isst weiter. Von ihrem Teller, mit ihrer Gabel, von ihrem Essen. Auf Mennos Platz. So, als wollte er nie mehr gehen.
Lisa nimmt einen Schluck Wasser, bringt es aber kaum durch die Kehle. Ihre Verzweiflung ist so groÃ, dass sie sich alle Mühe geben muss, um nicht in Tränen auszubrechen.
Sie hat vergeblich gehofft. Die Frau hat nichts unternommen, die Polizei kommt nicht. Sie ist ganz auf sich allein gestellt.
12
Natürlich hat Lisa sich bereits Gedanken über die kommende Nacht gemacht und überlegt, wer wo schlafen soll. Dass Kreuger sie und Anouk in ihren Betten übernachten lässt, ist mehr als unwahrscheinlich, doch das hat sie den ganzen Nachmittag über erfolgreich verdrängt. Es hat keinen Sinn, sich verrückt zu machen, sie hat von Minute zu Minute gelebt und bis zum Abend gehofft, dass Hilfe kommt.
Nun jedoch, da die Dämmerung das Haus einhüllt, sich wie eine Decke über den Garten legt, wird Lisa klar, dass der nächste Akt begonnen hat.
Nach dem Essen hat sie den Tisch abgeräumt und stellt gerade das Geschirr in die Spülmaschine. Anouk spielt mit ihrem Gameboy, und Kreuger fixiert von seinem Sessel aus den Fernseher. Er zappt, bis um halb acht auf RTL4 die Nachrichten beginnen.
Gleich im ersten Beitrag geht es um ihn. Lisa hört in der Küche Bruchstücke der Meldung und stellt sich etwas näher an die offene Tür.
»⦠noch keine Spur von dem flüchtigen Häftling Mick Kreuger â¦Â«
»⦠ohne seine Medikamente kann er durchaus gefährlich â¦Â«
»⦠hat am Morgen einen Mann erschlagen â¦Â«
»⦠wurde vor zwei Jahren verurteilt wegen Mordes an â¦Â«
Rasch geht Lisa wieder zur Spüle. Sie ringt um Fassung. Was passiert, um Himmels willen, wenn Kreuger längere Zeit keine Medikamente einnimmt? Womöglich kommt es dann zu Gewaltausbrüchen, die ansonsten unterdrückt werden.
Sie fasst sich an die schmerzhaft pochende Schläfe und trinkt einen Schluck Wasser gegen das trockene Gefühl im Mund.
Als sie sich umdreht, steht unversehens Kreuger vor ihr. Scharf zieht Lisa die Luft ein.
»Ich hätte gern einen Kaffee«, sagt er lediglich.
»Gut, ich koche welchen.« Sie drückt auf den Schalter der Espressomaschine. Mit Gebrumm springt sie an.
»Hast du das gehört?« Kreuger nickt in Richtung Fernseher.
»Ich habe hier
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