Revelations
hielt.
***
Zur Mittagszeit verließ der Humvee den schützenden Konvoi und wählte einen Kurs, der sie nach Temple Town führte, wo Angel wie gewohnt die Nacht verbringen wollte. Sie hatte die Flüchtlinge am Vortag quer durch die Wüste gejagt, da sie keinesfalls mit derart vielen Verwundeten in den verlassenen Ruinen übernachten konnte, wie es die Ranger für gewöhnlich auf Reisen zwischen Silver Valley und Jaguar Bay taten. Etwas wehmütig blickten Angel, Caiden und Cassidy auf die langgezogene Staubwolke am Horizont, bis ihre Freunde endgültig davon verschlungen wurden. Cassidy hatte ihren Hund zurücklassen müssen, war aber überzeugt, dass sich Jesse gut um ihren treuen Gefährten kümmern würde.
Von einem Augenblick zum anderen verwandelte sich Angel wieder in die routinierte Kommandeurin, holte Landkarten und Spähberichte hervor und begann sie aufmerksam zu studieren. Misstrauisch musterte sie den Himmel über sich. Die völlige Lethargie der Sicarii bereitete ihr zunehmend Sorgen. Nicht einen Moment lang glaubte sie daran, dass die Invasoren sie friedlich ziehen lassen würden. Bisher hatten hinter jeder feindlichen Aktion gleich eine ganze Reihe von Absichten gestanden und so musste es auch mit der momentanen Untätigkeit sein.
In den frühen Abendstunden erreichten sie die Ruinenlandschaft rund um die alte Kirche, die ihnen schon so oft als mehr oder weniger sicherer Rastplatz gedient hatte. Bedächtig steuerte Cassidy den schweren Geländewagen auf der Hut vor einem Hinterhalt durch die vorzeitlichen Mauerreste, doch auch hier wurden Angels Hoffnungen auf ein paar Antworten enttäuscht.
Die ganze Fahrt über hatten sie kaum ein Wort miteinander geredet. Cassidy musste sich auf den für sie viel zu großen Humvee konzentrieren und ihr Bruder schien gedanklich weit entfernt zu sein. Da Angel auf der Straße ohnehin die Ruhe der Konversation vorzog, riskierte sie erst nach Entfachung des obligatorischen Lagerfeuers in der frühen Abenddämmerung ein Gespräch mit ihrer Schülerin.
»Und? Schon was in Erfahrung gebracht?«, murmelte sie ihr mit einem Stück Trockenfleisch zwischen den Zähnen zu, als Caiden gerade neues Feuerholz besorgte.
»Nein. Er redet nicht mit mir«, erwiderte Cassidy kopfschüttelnd.
»Hat er sowas öfter?«
Zum ersten Mal seit dem Aufbruch nahm Cassidy ihre Sonnenbrille ab und verstaute sie in der linken Brusttasche ihrer Uniform. Nachdenklich sah sie ihrem Bruder hinterher, der in den Ruinen nach trockenen Ästen und Zweigen suchte. An Trauer und Verlust waren sie aufgrund des harten Lebens in der postapokalyptischen Steppe gewöhnt. Daran konnte seine plötzliche Verschlossenheit nicht liegen. Irgendetwas anderes musste in Silver Valley mit ihm passiert sein. Etwas derart schockierendes, dass er nicht mal mit ihr darüber zu reden vermochte. Noch einmal schüttelte sie mit dem Kopf und blickte ihrer Ausbilderin in die braunen Augen.
»Er weiß selbst nicht, was geschehen ist«, antwortete sie. »Erst wenn er für sich eine Antwort gefunden hat, wird er sie mit mir teilen.«
Solch philosophische Anwandlungen war Angel von ihrer jungen Schülerin gar nicht gewohnt. Entsprechend verwundert verzog sie das Gesicht und hoffte, dass es nur ihre staubigen Bücher waren, die langsam auf sie abfärbten.
»Kann er kämpfen?«, fragte sie so taktlos, wie Cassidy es inzwischen am liebsten hatte. Etwas erleichtert darüber, dass Angel ihre Prioritäten richtig setzte und das Thema für den Moment beiseiteschob, nickte sie bestätigend.
»Gut. Dann darf er heute Nacht Wache halten«, entschied Angel mit ernster Miene. Zur selben Zeit war Caiden ans Lagerfeuer zurückgekehrt und blickte sie an wie ein getroffener Hund. Einspruch gegen Angels Anweisungen waren aber so gut wie aussichtslos. Daher fügte er sich notgedrungen dem Befehl.
Kaum war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden, legten sich Angel und Cassidy auf den Kirchenstufen schlafen und ließen Caiden mit seinen Gedanken allein. Die Müdigkeit nach der langen Fahrt war kein großes Problem für ihn. Seine Erinnerungen an das tragische Ende von Silver Valley hielten ihn wach. Immer wieder stellte er sich die gleiche Frage: Warum? Warum hatte Faith Victor ermordet und damit nicht nur das Schicksal der Freien Enklaven besiegelt, sondern sie beide zu Flüchtlingen gemacht?
»Vergiss, dass du mich je gekannt hast!« , waren ihre letzten Worte gewesen. Wie konnte er, nach allem, was sie zusammen durchgestanden
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